Europa und die EU brauchen einen stärkeren, tieferen Kapitalmarkt, um die Chancen wie die grüne Transformation oder den Aufstieg der künstlichen Intelligenz zu finanzieren. Tiefe und liquide Kapitalmärkte können langfristig Wachstum schaffen, um den Rückgang des Wachstumspotenzials in den europäischen Volkswirtschaften zu überwinden. „Die EU ist sehr bankenlastig, was grenzüberschreitende Aktivitäten einschränkt. Innovationsgetriebenes Wachstum braucht stärkere Kapitalmärkte und nicht eine Ausweitung des Bankensektors“, sagt Camille Landais, Vorsitzender des Conseil d‘analyse économique (CAE). Der Sachverständigenrat Wirtschaft und der CAE haben in einem gemeinsamen Policy Brief fünf Maßnahmen zur Unterstützung einer wachstumsorientierten Agenda für die Kapitalmarktunion diskutiert.
Vereinfachung der Bewertung von Auslandsvermögen
Eine standardisierte Finanzberichterstattung in allen EU-Mitgliedstaaten würde es Investorinnen und Investoren ermöglichen, Indikatoren zu vergleichen und private Vermögenswerte auf ausländischen Märkten zu bewerten. Besonders die größeren Firmen unter den sogenannten kleinen und mittleren Unternehmen würden mit dem Zugang zum Kapitalmarkt eine attraktive Finanzierungsquelle hinzugewinnen. Eine Einbeziehung von Privatunternehmen in die ESAP-Initiative (European Single Access Point) würde die Transparenz erhöhen und den Zugang vereinfachen.
Die Harmonisierung der nationalen Insolvenzregelungen in Europa erleichtert grenzüberschreitende Investitionen von Private-Equity-Fonds, dient der Kostensenkung, sowie insgesamt einer besseren Allokation von Ressourcen an effizientere oder innovativere Unternehmen. Darüber hinaus kann eine solche Vereinheitlichung die paneuropäische Verbriefung von Vermögenswerten vereinfachen, wovon kleinere Staaten mit kleineren Vermögenspools profitieren.
Stärkung der europäischen Kapitalmarktaufsicht
Ein großes Hindernis für die Integration der europäischen Kapitalmärkte ist, dass die Aufsicht fragmentiert und an nationalen Grenzen ausgerichtet ist. Die EU sollte daher die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) stärken und reformieren, um ihre Wirksamkeit zu verbessern und eine stärkere Marktintegration zu begünstigen. Dazu sollte die Führungsstruktur der ESMA umgestaltet werden: Sie sollte ein kompaktes Exekutivdirektorium erhalten, das für alle Verwaltungs- und Aufsichtsentscheidungen zuständig ist. Die Aufsichtstätigkeit der ESMA sollte durch eine Abgabe der beaufsichtigten Unternehmen und Marktsegmente finanziert werden.
Neuausrichtung der institutionellen Anleger auf die Aktienmärkte
Institutionelle Anleger wie private Pensionsfonds können für mehr Liquidität auf den Kapitalmärkten sorgen. Würde die kapitalgedeckte Altersvorsorge von politischer Seite gestärkt, könnte sich das von den Pensionsfonds eingesammelte Kapital erhöhen. Im europäischen Vergleich sind Pensionsfonds in Frankreich und Deutschland relativ zum Bruttoinlandsprodukt klein. Obwohl regulatorische Anforderungen kein großes Hindernis für Investitionsentscheidungen darstellen, können sie Pensionsfonds dennoch daran hindern, direkt in Aktien und Anleihen zu investieren. Allerdings gibt es in den meisten Staaten Verbote oder Obergrenzen für Investitionen in private Investmentfonds. Eine Anhebung und Vereinheitlichung dieser Anlagegrenzen für Pensionsfonds würde ihnen mehr Freiheit bei ihren Anlageentscheidungen geben. Damit könnte mehr Kapital in risikoreichere Anlagen investiert werden, was in Summe das verfügbare Wagniskapital erhöhen dürfte.
Unterschiede in der nationalen Aufsichtskultur und -praxis könnten der Hauptgrund für die niedrige Aktienquote der Versicherungsunternehmen in einigen europäischen Ländern sein (trotz einheitlicher Solvabilität-II-Vorschriften). Daher sollte durch eine Reform der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und der betrieblichen Altersversorgung (EIOPA) die Aufsichtspraxis vereinheitlicht werden.
Aufstockung, Koordinierung und Verbesserung der Governance der öffentlichen Wagniskapitalfinanzierung auf europäischer Ebene
Wagniskapital ist besonders gut geeignet, Start-ups mit Finanzmitteln auszustatten, aber sie auch mit Beratung, Zugang zu Netzwerken und Monitoring zu unterstützen. Das Venture-Capital-Segment ist entscheidend bei der Förderung von Innovationen. Insbesondere in entwickelten Volkswirtschaften ist es von hoher Bedeutung, die Kontrolle über die Innovationsgrenze bei Schlüsseltechnologien zu behalten. In Europa hingegen wird diese Souveränität insofern in Frage gestellt, dass europäische Start-ups in neun von zehn Fällen beim Verkauf von amerikanischen Investorinnen und Investoren erworben werden. Erfolgreiche europäische Unternehmerinnen und Unternehmer wandern dadurch ins Ausland ab. Ein sinnvoller strategischer Ansatz in diesem Zusammenhang ist, die staatliche Kofinanzierung insbesondere für die Spätphase zu erhöhen. Dazu sollten die Mittel für den Europäischen Investitionsfonds (EIF) und die European Tech Champions Initiative (ETCI) aufgestockt werden.
Stärkere Kapitalmarktbeteiligung der privaten Haushalte
Die Privathaushalte in Europa halten ihre Ersparnisse überwiegend in renditeschwachen Anlageklassen wie Bankeinlagen. Eine Einführung von individuellen, durch die öffentliche Hand finanzierten Anlagekonten für Kinder (im Alter von 6 bis 18 Jahren) könnte langfristig das Vertrauen in die Kapitalmärkte stärken und die Partizipation an den Kapitalmärkten erhöhen. „Individuelle Anlagekonten tragen zur finanziellen Bildung von Kindern unabhängig von den Erfahrungen der Eltern bei. Kinder lernen so verschiedene Finanzzyklen kennen und können die Vorteile einer Aktienanlage verstehen: niedrige Risiken und langfristig hohe Renditen“, erklärt Ulrike Malmendier, Mitglied im Sachverständigenrat Wirtschaft. Dazu ist es notwendig, einen kostengünstigen und breit gestreuten Aktienfonds als Pflicht- oder Standardanlageprodukt einzusetzen.