Jahresgutachten 2018/19: Kapitel 1
I. VOR WICHTIGEN WIRTSCHAFTSPOLITISCHEN WEICHENSTELLUNGEN
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(1) Die deutsche Volkswirtschaft befindet sich in einer der längsten Aufschwungphasen der Nachkriegszeit. Gleichzeitig steht sie vor einer Reihe großer Herausforderungen. Diese betreffen zum einen die weltweit zunehmende Abkehr von einer multilateralen globalen Wirtschaftsordnung, die Europa in einer Zeit trifft, in der es durch den Brexit und die wachsende Bedeutung europakritischer Stimmen bereits geschwächt ist. Dabei kann Europa den internationalen Entwicklungen am besten gemeinsam begegnen.
Zum anderen stellt sich angesichts großer struktureller Umbrüche die Frage der Zukunftsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft, die vor dem Hintergrund des rasch voranschreitenden demografischen Wandels besondere Bedeutung besitzt. Den raschen Strukturwandel im Zuge der Digitalisierung zuzulassen, könnte helfen, die nationalen Herausforderungen zu meistern. Dies erfordert entschlossene wirtschaftspolitische Weichenstellungen.
(2) Angesichts dieser großen Herausforderungen geht die Bundesregierung notwendige Reformen nicht beherzt genug an und bewegt sich in wesentlichen Bereichen, beispielsweise in der Rentenpolitik, in die falsche Richtung. In anderen Bereichen, wie der Digitalisierung, lässt sie Chancen ungenutzt. Zudem setzt sie sich nicht entschieden genug für ein europäisches Vorgehen ein, wo dieses angezeigt ist, wie etwa in der Klima- oder Asylpolitik. Bei der Weiterentwicklung der Europäischen Währungsunion läuft sie Gefahr, entscheidende Prinzipien wie die Einheit von Haftung und Kontrolle aus dem Blick zu verlieren.
Um den Wohlstand langfristig zu sichern, sollte die Wirtschaftspolitik die noch immer gute konjunkturelle Phase nutzen, um die Rahmenbedingungen der deutschen Volkswirtschaft zu stärken und Handlungsspielräume für neu auftretende Herausforderungen zu schaffen. Von einer lenkenden Industriepolitik sollte sie hingegen Abstand nehmen.
Globaler Multilateralismus und europäische Integration
(3) Deutschland ist die offenste unter den großen Volkswirtschaften. Abbildung 1 oben Der internationale Handel und die Globalisierung tragen einen wichtigen Teil zum deutschen und globalen Wohlstand bei (JG 2017 Ziffern 629 ff.). Nach Jahrzehnten der Liberalisierung haben aber mit der Einführung von Zöllen durch die US-Regierung und die Reaktionen der Handelspartner protektionistische Einflüsse an Gewicht gewonnen. Die Vereinigten Staaten haben diese Entwicklung mit ihrer Abkehr von multilateralen Vereinbarungen, vor allem in Bezug auf die Welthandelsorganisation (WTO) und das Klimaabkommen von Paris, stark befördert. Handels- und Kapitalströme werden zudem von Steuerreformen insbesondere in den Vereinigten Staaten beeinflusst, welche die internationalen Rahmenbedingungen verändern und den Steuerwettbewerb verstärken.
(4) Viele Herausforderungen kann Deutschland nur gemeinsam mit den Partnern in der Europäischen Union (EU) sinnvoll in Angriff nehmen. Denn die EU ist nicht nur Garant für eine über 70 Jahre währende Zeit des Friedens. Mit dem politischen und ökonomischen Gewicht ihrer Mitgliedstaaten kann sie sich in Verhandlungen auf internationaler Ebene den nötigen Einfluss verschaffen. Deutschland ist dabei in besonderem Maße mit den anderen Mitgliedstaaten der EU vernetzt. Die EU wird jedoch Anfang des Jahres 2019 durch den Brexit ein bedeutsames Mitglied verlieren, womit nach Jahrzehnten der Erweiterung erstmals der Prozess der europäischen Integration umgekehrt wird. Gleichzeitig stellt die Regierung Italiens die Regeln der Europäischen Währungsunion offen infrage. Dies stellt die europäischen Institutionen und die Zusammenarbeit in Europa vor große Herausforderungen.
Demografischer Wandel und Digitalisierung
(5) Deutschland ist eines der Länder, das dem demografischen Wandel in den kommenden Jahrzehnten am stärksten ausgesetzt sein wird. Abbildung 1 unten Das nahende Ende der demografischen Atempause stellt die Systeme der sozialen Sicherung zunehmend auf die Probe. Dennoch werden derzeit politische Entscheidungen getroffen, welche die Nachhaltigkeit dieser Systeme weiter beeinträchtigen. Stattdessen wären wachstumsfreundliche Steuerreformen, eine nachhaltige Struktur des Renten-, Gesundheits- und Transfersystems und eine volkswirtschaftlich effiziente Energiewende angezeigt. Der lang anhaltende Wirtschaftsaufschwung und die demografische Atempause bieten schon seit Längerem gute Voraussetzungen für Reformen, um Wachstum und Nachhaltigkeit zu stärken. Die Bundesregierung droht diese Chance zu verpassen.
(6) Aufgrund einer sinkenden Anzahl von Erwerbspersonen wird Deutschland auf eine dynamische Produktivitätsentwicklung angewiesen sein, um den Wohlstand sichern zu können. Die weiter voranschreitende Digitalisierung eröffnet dabei große Potenziale und könnte dazu beitragen, dem drohenden Fachkräftemangel zu begegnen. Dazu bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen. Die Chancen der Digitalisierung dürften gegenüber ihren Risiken überwiegen. Globalisierung und Digitalisierung schaffen Wohlstand. Dies erfordert einen umfassenden Strukturwandel, der mit erheblichen Anpassungen einhergeht. Es wäre falsch, hierauf mit kurzsichtigen Schutzmaßnahmen zu reagieren. Vielmehr sollten die Menschen besser dazu befähigt werden, aus eigener Kraft die Chancen des Wandels zu ergreifen.
Deutschland hat den Strukturwandel in den zurückliegenden Jahrzehnten erfolgreich bewältigt. Einen großen Anteil daran hatte eine Wirtschaftsordnung, die im Kern auf die Soziale Marktwirtschaft setzt. Mit einer ausgewogenen Balance von Eigenverantwortung und sozialer Absicherung kann es gelingen, den Wandel weiter erfolgreich zu gestalten und die sich aus den Umbrüchen bietenden Chancen zu ergreifen. Die deutsche Politik sollte zentrale Elemente dieser Wirtschaftsordnung – wie Eigenverantwortung und Wettbewerb – selbst unter dem Eindruck der vielfältigen neuen Herausforderungen nicht infrage stellen. In einer solchen Situation den Forderungen nach industriepolitischen Eingriffen nachzugeben, ist der falsche Weg.
II. GLOBALISIERUNG: PROTEKTIONISMUS VERHINDERN, MULTILATERAL HANDELN
(7) Seit der Amtsübernahme durch US-Präsident Trump ist eine Abkehr der Vereinigten Staaten von multilateralen Organisationen und Abkommen zu beobachten, etwa bei der WTO oder dem Pariser Klimaschutzabkommen. Speziell im internationalen Handel und globalen Klimaschutz sind nationale Alleingänge mit Wohlfahrtsverlusten für die Staatengemeinschaft verbunden. Bei der Besteuerung haben die Vereinigten Staaten ebenfalls einen neuen Weg eingeschlagen, was zu einer Umlenkung von Kapitalströmen und zu Reaktionen von anderen Staaten führen könnte. Deutschland wäre gut beraten, den Steuerwettbewerb anzunehmen und sein Steuersystem anzupassen.
1. Weitere Liberalisierung statt Protektionismus
(8) Die Anzahl der umgesetzten Maßnahmen, die den Handel behindern, und das von ihnen betroffene Handelsvolumen haben unter den WTO-Mitgliedern im vergangenen Jahr weiter zugenommen (WTO, 2018a). Die Zollerhöhungen durch die Vereinigten Staaten in diesem Jahr sind das drastischste Beispiel für diese Tendenz zu mehr Protektionismus. Abbildung 2
Die bisherigen Maßnahmen der Vereinigten Staaten und die darauf folgenden Vergeltungsmaßnahmen der Handelspartner haben die durchschnittlichen Zollsätze bereits spürbar erhöht. Dieser Anstieg würde deutlich verstärkt, sollten die Vereinigten Staaten die angedrohten zusätzlichen Zölle auf Automobile einführen und ihre Drohungen gegenüber China wahrmachen. Die hiervon betroffenen Handelsvolumina wären weit größer als bei den bislang umgesetzten Zollerhöhungen. Eine Eskalation der Handelskonflikte stellt ein erhebliches Risiko für die weitere Entwicklung der Weltwirtschaft dar. Ziffern 207 ff.
(9) Die gegenseitigen Zollerhöhungen dürften für die betroffenen Volkswirtschaften mit negativen Wohlfahrtseffekten einhergehen (JG 2017 Ziffern 657 ff.; IWF, 2018a). Zu beachten ist jedoch, dass die derzeitige Situation bislang nicht mit einem Handelskrieg wie in den 1920er- und 1930er-Jahren zu vergleichen ist. Damals erhöhten mehrere Staaten gleichzeitig jeweils gegenüber den anderen Staaten ihre Zölle, sodass der weltweit durchschnittliche Zollsatz von rund 8 % im Jahr 1920 auf rund 25 % im Jahr 1933 anstieg (JG 2017 Ziffer 637). Dagegen gehen die aktuellen Zollerhöhungen entweder nur von den Vereinigten Staaten aus oder richten sich ausschließlich gegen sie.
Dabei ist der Handelskonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China noch gravierender als zwischen den Vereinigten Staaten und Europa. Abbildung 2 Die Auswirkungen auf die deutsche Exportwirtschaft sind dabei nicht eindeutig, denn den Risiken für die Lieferketten stehen Chancen aus der möglichen Umlenkung von Handelsströmen gegenüber. Für Deutschland liegen die Risiken vor allem im langfristigen Trend hin zu mehr Protektionismus und der damit einhergehenden verringerten internationalen Arbeitsteilung. Schätzungen zeigen, dass rund die Hälfte des Anstiegs des realen Einkommens je Einwohner in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf den Handel zurückzuführen war (JG 2017 Ziffer 661).
(10) Die Erhöhung der Zölle wird von der US-Regierung unterschiedlich begründet. Offiziell dienen etwa die Zölle auf Stahl und Aluminium auf Basis des US-amerikanischen Rechts (Trade Expansion Act, 1962, Paragraf 232) und des WTO-Rechts (GATT, 1994, Artikel XXI) dem Schutz der nationalen Sicherheit. Beide Gesetzesartikel hatten die Vereinigten Staaten seit Gründung der WTO im Jahr 1995 noch nicht angewandt und selbst das US-Verteidigungsministerium bestritt die Notwendigkeit des Schutzes durch Zölle (U.S. Department of Defense, 2018).
Insbesondere die zuletzt angekündigten Zölle gegenüber China rechtfertigt die US-Regierung mit unfairen Praktiken Chinas in Bezug auf Technologie und immaterielle Güter (Trade Act, 1974, Paragraf 301). Dabei geht es etwa um erzwungene Transfers von Technologie oder Diebstahl von geistigem Eigentum. Diesen Vorwurf erheben US-Regierungen bereits seit mehreren Jahren. Die Europäische Kommission hat China ebenfalls mehrfach deswegen kritisiert (Europäische Kommission, 2018a) und ein Konsultationsverfahren bei der WTO initiiert (WTO, 2018b). Die Regelungen im WTO-Recht sind hierauf jedoch nur eingeschränkt anwendbar, und an einigen Stellen fehlen genauere Definitionen und Anwendungsgebiete. Ziffern 178 ff.
(11) In der öffentlichen Debatte um die Zollerhöhungen steht vor allem das Handelsbilanzdefizit der Vereinigten Staaten mit China, der EU und Deutschland im Vordergrund. Dabei haben die Vereinigten Staaten bereits seit den 1980er-Jahren ein dauerhaftes Leistungsbilanzdefizit gegenüber wechselnden Partnern aufgewiesen (Konjunkturprognose 2017 Kasten 2). Abbildung 3 oben Es ist allerdings unklar, ob die EU bei Berücksichtigung der Dienstleistungen und Primäreinkommen gegenüber den Vereinigten Staaten überhaupt einen Überschuss aufweist. So unterscheiden sich die Zahlen der US-amerikanischen Statistikbehörde BEA und von Eurostat aufgrund der unterschiedlichen Bewertung des Dienstleistungshandels und der Primäreinkommen (Eurostat, 2017). Abbildung 3 unten
Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss hatte im Jahr 2015 mit 8,9 % des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) einen Höchstwert erreicht und sinkt seitdem. Im Jahr 2017 lag er bei 7,9 % und dürfte bis zum Jahr 2019 weiter zurückgehen, auf dann 6,6 %. Ziffer 315 Wenngleich die Betrachtung eigentlich dem gemeinsamen europäischen Währungsraum gelten sollte und es eine Reihe wichtiger Gründe für die träge Rückbildung des deutschen Leistungsbilanzüberschusses gibt, wird dieser international kritisch diskutiert.
Entgegen der merkantilistischen Rhetorik ihres Präsidenten verlieren die Vereinigten Staaten nicht jährlich Geld in Höhe des Handelsdefizits an den Rest der Welt. Das lang anhaltende Defizit ist nicht zuletzt Ausdruck des „außerordentlichen Privilegs“ der Vereinigten Staaten: Weltweit sind viele Notenbanken und private Investoren bereit, US-amerikanische Staatsanleihen als sichere Anlage zu halten (Konjunkturprognose 2017 Kasten 2). Schließlich ist der internationale Handel kein Nullsummenspiel, sondern eine wichtige Quelle des weltweiten Wohlstands (JG 2017 Ziffern 629 ff.).
(12) Im Juli 2018 haben EU-Kommissionspräsident Juncker und US-Präsident Trump eine gemeinsame Vereinbarung im Handelskonflikt verkündet (Europäische Kommission, 2018b). Diese hat die Gefahr einer Eskalation des Handelskonflikts zwischen den beiden Handelsblöcken zwar verringert. In Bezug auf die Liberalisierung des Welthandels und des Handels zwischen der EU und den Vereinigten Staaten stellt die Situation jedoch nach wie vor einen Rückschritt gegenüber der Zeit vor US-Präsident Trump dar.
So werden die bislang eingeführten Zölle nicht zurückgenommen, und viele Elemente der Vereinbarung sind vage gehalten. Zudem halten Teile der Erklärung lediglich bereits laufende Vorgänge fest. Ein Anstieg der EU-Importe von US-amerikanischen Sojabohnen war bereits seit Längerem zu beobachten und dürfte mit Zöllen auf US-amerikanische Sojabohnen durch China zusammenhängen. Eine Steigerung des Imports von US-amerikanischem Flüssiggas ist ebenfalls bereits seit längerer Zeit zu erkennen (Europäische Kommission, 2018c). Dies ist Teil der Strategie der EU, weniger abhängig von russischen Gasimporten zu werden (Europäische Kommission, 2014).
(13) Der zentrale Teil der Erklärung ist die Absicht, gemeinsam für Industriegüter ohne Automobile Zölle, nicht-tarifäre Handelsbarrieren und Subventionen auf Null zu senken. Dies ist insgesamt jedoch weniger, als in der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) vorgesehen war. Die Verhandlungen dazu standen im Jahr 2016 bereits kurz vor dem Abschluss, und das Abkommen hätte weit mehr Bereiche und Regelungen umfasst (JG 2015 Ziffern 72 ff.).
Der derzeitige Verhandlungsprozess ähnelt dem Vorgehen der US-Regierung bei der Neuverhandlung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) mit Kanada und Mexiko. Der Entwurf des neuen USMCA (United States–Mexico–Canada Agreement) kombiniert das alte NAFTA mit Elementen aus der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) und fügt in kleineren Teilbereichen, wie Milchprodukten oder inländischen Anteilen an der Autoproduktion, spezielle, teilweise handelsbehindernde Regelungen hinzu. Insgesamt ist dies in Bezug auf die Handelsliberalisierung ebenfalls weniger als ursprünglich in der TPP vorgesehen war, deren Verhandlungen im Jahr 2016 bereits abgeschlossen waren.
(14)Yalcin et al. (2017) und die Gemeinschaftsdiagnose (2018) zeigen, dass eine einseitige Erhöhung der Zölle für die Vereinigten Staaten vorteilhaft sein könnte und es beispielsweise in der EU zu einem Rückgang des BIP käme. Führen jedoch die anderen WTO-Mitglieder als Antwort ebenfalls Zölle ein, so gäbe es nur noch Verlierer, wobei die Verluste für den Rest der Welt dann kleiner ausfielen als bei einseitigen Zollerhöhungen. In einer derartigen Situation hätte kein Land einen Anreiz, seine Zölle einseitig wieder zu senken, sondern vielmehr die Zollerhöhung zu erwidern. Die internationalen Verträge und das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) als Vorläufer der WTO waren gerade deshalb abgeschlossen worden, um solch eine Eskalation, wie sie in den 1930er-Jahren zu beobachten war, zu verhindern.
(15) Oberstes Ziel der deutschen und europäischen Politik sollte es daher sein, die multilaterale, regelbasierte Handelsordnung sowie die dafür eingerichtete Institution, die WTO, zu stärken. Ziffern 178 ff. Die derzeit gültigen grundlegenden Regeln wurden in der Uruguay-Runde zwischen 1986 und 1994 verhandelt; die aktuelle Situation böte einen guten Anlass dazu, die internationalen Anstrengungen für Zollsenkungen innerhalb der WTO wieder zu verstärken. Die gemeinsame Erklärung der EU und der Vereinigten Staaten vom Juli 2018 erwähnt dementsprechend eine Reform und Stärkung der WTO, obwohl letztere im vergangenen Jahr von Regierungsvertretern der Vereinigten Staaten wiederholt angegriffen wurde.
Die Reform könnte insbesondere die Kritik der Vereinigten Staaten und der EU aufgreifen und verschärfte Regeln zur Eindämmung marktverzerrender Subventionen und staatlicher Unternehmen sowie zum Schutz von Technologie und geistigem Eigentum vorsehen. Ziffer 183 Zudem könnte eine wirksamere und effizientere Organisationsstruktur, etwa in Bezug auf das von den Vereinigten Staaten kritisierte Berufungsorgan der WTO Ziffer 181 oder auf effektivere Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse Ziffer 182, die WTO handlungsfähiger machen. Zudem dürfte eine Modernisierung des Regelwerks notwendig sein, um neue Themenfelder wie digitale Dienstleistungen zu erfassen Ziffer 183, Entwicklungsländer besser zu berücksichtigen Ziffer 184 oder plurilaterale Vereinbarungen stärker einzubeziehen. Ziffer 185
(16) Die WTO sieht Vergeltungsmaßnahmen gegen Staaten vor, die gegen ihre Regeln verstoßen. Die Aussicht auf Vergeltung soll Protektionismus von vornherein eindämmen. Die EU sollte innerhalb der Regeln der WTO solche Vergeltungsmaßnahmen in Betracht ziehen. Dabei sollten diese wie dort vorgesehen im Umfang beschränkt sein, um nicht selbst die nächste Eskalationsstufe auszulösen.
Yalcin et al. (2017) schätzen, dass durch die Erwiderung der Zollerhöhung selbst für dasjenige Land ein Verlust entsteht, das mit den Zollerhöhungen begonnen hat. Ohne eine glaubwürdige Bestrafung von Regelverletzungen wäre das regelbasierte Handelssystem zwischen 164 Staaten ausschließlich auf deren guten Willen angewiesen. Dass dieser nicht ausreicht, zeigte sich etwa im Jahr 2002. Damals erhöhte die US-Regierung unter Präsident George W. Bush einseitig die Zölle auf Stahl. Im darauffolgenden Jahr machte sie dies nicht zuletzt wegen der Androhung von durch die WTO legitimierten Vergeltungszöllen wichtiger Handelspartner wieder rückgängig.
(17) Um die Chance auf weitere Wohlfahrtssteigerungen durch eine Liberalisierung des Handels (JG 2017 Ziffern 629 ff.) zu nutzen, könnte die EU neue Freihandelsabkommen abschließen. Ein erster wichtiger Ansprechpartner dafür wären die Vereinigten Staaten: Da die EU und die Vereinigten Staaten teils noch relativ hohe Zölle erheben, Abbildung 4 könnte die EU eine beiderseitige Reduktion der Zölle vorschlagen. Dieses Vorhaben könnte auf Teilen der TTIP-Verhandlungen aufbauen, in welchen bereits viele Zölle identifiziert wurden, die durch das Freihandelsabkommen auf Null hätten gesenkt werden sollen.
Das Freihandelsabkommen muss sich dabei „im Wesentlichen auf den gesamten Handel zwischen zwei Gebieten“ (GATT, 1994, Artikel XXIV:8) beziehen, um unter den WTO-Regeln als solches zu gelten. Abkommen nur für einzelne oder mehrere Wirtschaftsbereiche sind somit nicht zulässig und würden, da sie nicht vom Meistbegünstigungsprinzip ausgenommen sind, eine Senkung der entsprechenden Zölle gegenüber allen WTO-Mitgliedern notwendig machen.
Außerdem könnte sich die EU, speziell in einer Situation, in der die Vereinigten Staaten ihre traditionelle Rolle als Vorreiter des liberalisierten Welthandels aufgeben, stärker gegen Protektionismus einsetzen und Freihandelsabkommen mit anderen Regionen abschließen. Die EU hat diesen Weg bereits eingeschlagen und verhandelt aktuell mit Neuseeland, Australien, Singapur, Mexiko, dem gemeinsamen südamerikanischen Markt Mercosur und Chile über Freihandels- und mit China über ein Investitionsabkommen.
(18) Bei ausländischen Direktinvestitionen hat die Bundesregierung in diesem Jahr eigene protektionistische Maßnahmen angekündigt. Eine Verschärfung des Einspruchsrechts in der Außenwirtschaftsverordnung soll der Bundesregierung mehr Kontrollrechte bei Beteiligungen und Übernahmen durch Investoren von außerhalb der EU einräumen (BMWi, 2018a). Einige wenige Unternehmensübernahmen durch chinesische Investoren dominieren dabei die Debatte: Der Anteil chinesischer Direktinvestitionen an den gesamten Direktinvestitionen ist mit etwa 7 % im Jahr 2017 aber eher klein (Rusche, 2018; JG 2016 Ziffern 982 ff.). Zudem ist aus deutscher Sicht zunächst unproblematisch, dass bei den Übernahmen ausländische Steuermittel zum Einsatz kommen oder dass die Investoren etwa aus China stammen (JG 2016 Ziffer 988).
Der Schutz von technischem Wissen und geistigem Eigentum ließe sich durch die keineswegs ausgereizten Mittel im Rahmen der WTO (JG 2016 Ziffer 989) oder einer Reform der WTO Ziffern 178 ff. besser sicherstellen als durch eine allgemeine Genehmigungspflicht für Investitionen. Statt den Zugang zum Standort zu erschweren und ausländische Investoren abzuschrecken, sollte die deutsche Wirtschaftspolitik eher die Standortqualität verbessern und versuchen, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen. Diese führen zu mehr Innovationen und tragen zum Wohlstand bei, indem sie etwa zusätzliches Kapital zur Verfügung stellen und damit zusätzliche Arbeitsplätze und eine höhere Arbeitsproduktivität ermöglichen. Dies schließt nicht aus, eine Prüfung von Direktinvestitionen hinsichtlich sicherheitsrelevanter Wirtschaftsinteressen im Rahmen europäischer Regeln durchzuführen (JG 2016 Ziffer 986).
- Stärkung des multilateralen, regelbasierten Handelssystems und der WTO
- Antwort der EU auf Protektionismus durch Vergeltungsmaßnahmen innerhalb der WTO-Regeln
- Abschluss neuer Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten und anderen Staaten
2. Den internationalen Steuerwettbewerb annehmen
(19) Zahlreiche OECD-Länder, die in der jüngeren Vergangenheit noch höhere tarifliche Gewinnsteuersätze hatten als Deutschland, haben jüngst ihre Steuersätze gesenkt. Hierzulande ergibt sich sogar ein gegenläufiger Trend, da die Gemeinden in den vergangenen Jahren kontinuierlich die Gewerbesteuer erhöht haben. Deutschland rückt dadurch bei den tariflichen Gewinnsteuersätzen im internationalen Vergleich allmählich wieder an die Spitze. Dies ist ungünstig, weil die tariflichen Steuersätze vor allem für Gewinnverlagerungen multinationaler Unternehmen ausschlaggebend sind. Eine vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags könnte den seit der Steuerreform des Jahres 2008 vollzogenen Anstieg in etwa ausgleichen sowie Gewerbetreibende und Selbstständige entlasten. Ziffern 635 ff. Steuerpolitische Maßnahmen sind dazu geeignet, das Produktionspotenzial zu erhöhen.
In den vergangenen Jahren sind Steuerreformen in Deutschland weitgehend ausgeblieben. Abbildung 5 Seit dem Jahr 2010 wurden lediglich kleine Korrekturen am progressiven Einkommensteuertarif vorgenommen, die allerdings nicht die Mehrbelastung durch die Kalte Progression ausgeglichen haben (JG 2017 Ziffern 586 ff.). Die Steuereinnahmen stiegen seitdem bei einer Betrachtung der Jahresdurchschnitte in jedem Jahr stärker als das nominale BIP. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass rückläufige Steuersätze nicht zwingend mit einem geringeren Steueraufkommen einhergehen. Bei den Reformen wird oftmals die Bemessungsgrundlage verbreitert. Dies kann Verzerrungen abbauen und gleichzeitig das Aufkommen sichern, das für die Bereitstellung öffentlicher Güter benötigt wird.
(20) Die umfangreichste Steuerreform innerhalb der Gruppe der OECD-Länder wurde zu Beginn des Jahres in den Vereinigten Staaten umgesetzt. Diese Reform geht jedoch weit über reine Steuersenkungen hinaus. Sie ordnet insbesondere die Besteuerung multinationaler Unternehmen neu und erschwert es, Gewinne in Steueroasen zu verschieben. Ziffern 570 ff. Darüber hinaus umfasst sie eine Regelung für eine Patentbox, sodass Erträge aus Patenten und weiterem geistigen Eigentum steuerlich geringer belastet werden. Ziffer 597
(21) Patentboxen werden in einigen OECD-Ländern zur outputseitigen steuerlichen Förderungen von Forschung und Entwicklung genutzt. In Deutschland wird hingegen gegenwärtig im Rahmen der Hightech-Strategie eine inputseitige steuerliche Förderung diskutiert. Maßnahmen der steuerlichen Forschungsförderung laufen jedoch Gefahr, mit erheblichen Mitnahmeeffekten einherzugehen. Um die Nutzung von Patentboxen als Instrument für eine schädliche Steuervermeidung einzuschränken, hat die OECD den Nexus-Ansatz etabliert. Der Ansatz verlangt beispielsweise, dass der Steuerrabatt nur gewährt wird, wenn ein Teil der Forschung im Land verbleibt oder dort weiterentwickelt wird. Er schließt zudem den Einbezug von Markenrechten aus.
Erträge aus Patenten oder anderem geistigen Eigentum sind im Allgemeinen mobiler als andere Ertragsformen. Als steuerwettbewerbliches Element könnte daher trotz der damit einhergehenden Mitnahmeeffekte erwogen werden, eine Patentbox in Deutschland einzurichten, die mit dem Nexus-Ansatz konform ist. Ziffern 595 ff.
(22) Digitale Geschäftsmodelle gelten ebenfalls als äußerst mobil. Ihre Besteuerung ist insbesondere deswegen komplex, weil sie nicht zwingend eine physische Präsenz in einem Land voraussetzen, um dort tätig zu sein. Die Europäische Kommission hat mit dem Ziel einer effektiven Besteuerung digitaler Unternehmen daher zwei Richtlinienvorschläge vorgelegt. Während der erste Vorschlag eine Definition einer digitalen Betriebsstätte unterbreitet, sieht der zweite Vorschlag eine vorübergehende Sondersteuer vor. Beide Vorschläge haben zahlreiche Mängel. Angebracht wäre es stattdessen, zunächst steuerrechtliche Schlupflöcher und Präferenzregime, die gerade digitale Unternehmen zur Reduktion ihrer Steuerlast nutzen, aufzuheben und hierdurch eine effektive Besteuerung sicherzustellen. Ziffern 616 ff.
Für eine grundlegende Lösung sowie die Bekämpfung schädlicher Steuervermeidungsstrategien wäre ein international koordiniertes Vorgehen im Rahmen der OECD ratsam. Eine Mindestbesteuerung in Form einer Hinzurechnungsbesteuerung, wie sie im Rahmen der US-amerikanischen Steuerreform vorgesehen ist und gegenwärtig ebenfalls in Deutschland diskutiert wird, kann eine Zwischenlösung darstellen, soweit sie einen ökonomisch sinnvollen Steuerwettbewerb nicht einschränkt. Sie löst jedoch die grundlegenden Probleme nicht und setzt lediglich an den Symptomen an. Ziffer 631
(23) Gerade für ein Hochsteuerland wie Deutschland sind die Standortbedingungen von Bedeutung. Diese beeinflussen die Ansiedlung von Unternehmen und deren Investitionsentscheidungen. Bestehende Verzerrungen im Steuersystem sollten deshalb abgebaut werden. Hierzu gehört es, die Diskriminierung der Beteiligungsfinanzierung zu beenden. Diese stellt ein besonderes Problem für junge Unternehmen dar, denen typischerweise kaum andere Finanzierungsformen offenstehen.
Eine Gleichbehandlung könnte im Prinzip mit der Ratsrichtlinie zu einer „Gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage“ erreicht werden, welche die Europäische Kommission im Jahr 2016 veröffentlicht hat (JG 2017 Kasten 2). Jedoch wird diesem Vorschlag gemäß nur neues Eigenkapital berücksichtigt, sodass die bestehenden Verzerrungen nicht vollständig beseitigt werden. Der Sachverständigenrat hat mit seinem Vorschlag einer Zinsbereinigung des Grundkapitals eine Möglichkeit aufgezeigt, wie die Diskriminierung vollständig aufgehoben werden könnte. Die Umsetzung wäre mit jährlichen Mindereinnahmen zwischen 2,8 Mrd Euro bei einem Bereinigungszinssatz von 1,5 % und 5,6 Mrd Euro bei einem Bereinigungszinssatz von 3 % verbunden. Ziffer 643
- Vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags zur Eindämmung des kontinuierlichen Anstiegs des tariflichen Gewinnsteuersatzes
- Ablehnung der Vorschläge für die Besteuerung digitaler Unternehmen und Einrichtung einer Mindestbesteuerung lediglich als vorübergehende Lösung
- Mögliche Einführung einer Patentbox als Instrument im Steuerwettbewerb und Zinsbereinigung des Grundkapitals zur Beseitigung der Verzerrung im Steuersystem
3. Effizienter Klimaschutz durch marktbasierte Lösungen
(24) Im Sommer 2017 hat US-Präsident Trump den Austritt der Vereinigten Staaten aus dem Klimaabkommen von Paris erklärt. Damit steigt ausgerechnet der nach China weltweit zweitgrößte Emittent von Treibhausgasen aus dem von 195 Staaten unterzeichneten Abkommen aus und wirft die Bemühungen um eine globale Lösung für den Klimaschutz um Jahre zurück. Dies wiegt deswegen besonders schwer, weil nationale Alleingänge in diesem Bereich volkswirtschaftlich höchst ineffizient sind und ein globales Vorgehen letztlich unverzichtbar ist (JG 2016 Ziffern 856 ff.).
(25) Statt nationaler Energiewenden und Aktionsprogramme wäre die Festlegung auf einen einheitlichen globalen CO2-Preis als Leitinstrument wirksamer, was bereits seit einiger Zeit von vielen Institutionen gefordert wird (JG 2009 Ziffern 366 ff.; acatech, 2012; Wissenschaftlicher Beirat beim BMWi, 2012; Monopolkommission, 2013a; Bundesrechnungshof, 2018). Die Schwierigkeiten bei der internationalen Koordination können nicht rechtfertigen, dass die deutsche Politik sich auf nationale Maßnahmen konzentriert, statt ihre Koordinationsbemühungen zu verstärken.
Cramton et al. (2017) zeigen Wege der internationalen Kooperation über einen CO2-Preis und Möglichkeiten der gemeinsamen Verpflichtung unterschiedlicher Staaten auf. So könnte, den grundsätzlichen Willen der Staatengemeinschaft zum Klimaschutz vorausgesetzt, etwa ein gemeinsam gewählter globaler Preis, der national mit unterschiedlichen Systemen also etwa Steuern oder Marktsystemen erreicht werden kann und deren Einnahmen national verbleiben, in Kombination mit einem Fonds zur Förderung von ärmeren Staaten, die Koordination erleichtern (MacKay et al., 2015).
(26) Um das Zustandekommen eines gemeinsamen CO2-Preises auf globaler Ebene zu begünstigen, sollten zumindest die Mitgliedstaaten der EU auf das einheitliche europäische Emissionshandelssystem (EU-ETS) setzen. In den vergangenen Jahren war der Preis für Emissionszertifikate innerhalb des EU-ETS relativ niedrig und setzte dadurch nur begrenzt Anreize für Verhaltensanpassungen oder Innovationen (JG 2016 Kasten 29). Eine Ursache dafür könnte ein Überschussangebot an Zertifikaten gewesen sein.
Seit Mitte des Jahres 2017 ist der Preis im EU-ETS nun stark angestiegen. Abbildung 6 oben Dies ist zum Teil eine Folge verschiedener Politikmaßnahmen sowie deren Antizipation durch die Marktakteure. So wird etwa das Angebot an Zertifikaten ab Anfang 2019 durch eine Marktstabilitätsreserve gesteuert, die dafür sorgt, dass nicht zugeteilte sowie in den Jahren 2010 bis 2014 zurückgehaltene Zertifikate (Backloading) aus dem Markt genommen werden. Zudem haben Europäische Kommission und Europäisches Parlament sich für die vierte Phase (2021 bis 2030) des EU-ETS auf Reformen geeinigt, die unter anderem eine schnellere jährliche Reduktion der Gesamtzahl der Zertifikate und neue Regeln zur Vermeidung der Verlagerung von Treibhausgasemissionen aus dem Geltungsbereich des EU-ETS heraus (Carbon Leakage) vorschreiben (Europäische Kommission, 2018d).
Problematisch ist aber nach wie vor, dass nicht alle Sektoren und Technologien Teil des EU-ETS sind. Die Emissionsvermeidung findet daher tendenziell nicht dort statt, wo sie am günstigsten zu erreichen wäre. Insbesondere sollten der Verkehrssektor, die Privathaushalte und die bisher ausgenommenen Industrien mit einbezogen werden, um eine effiziente Reduktion der Treibhausgase und die dafür erforderliche Verknüpfung der Sektoren Strom, Wärme und Verkehr (Sektorkopplung) zu gewährleisten (JG 2016 Ziffern 898 ff.).
(27) Insbesondere am Beispiel der neu geschaffenen Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ („Kohlekommission“) zur Vorbereitung des Kohleausstiegs wird deutlich, weshalb ein international koordiniertes Vorgehen notwendig ist: Da sich das nationale Emissionsziel ausschließlich auf die deutsche Produktion bezieht, könnten die durch den Kohleausstieg eingesparten CO2-Emissionen ins Ausland verlagert werden oder innerhalb des EU-ETS den Preis der Emissionen anderer Länder senken. Das Volumen der weltweiten Emissionen bliebe dabei unverändert. Gäbe es einen einheitlichen CO2-Preis, so würde dieser mittelfristig ebenfalls die Kohle aus der Stromproduktion herausdrängen, er würde dies aus Sicht des globalen Energiesystems jedoch kostengünstiger tun. Ein von der „Kohlekommission“ bestimmter fester Ausstiegspfad würde hingegen die volkswirtschaftlichen Kosten erhöhen.
(28) Im Gegensatz zur Reduktion von CO2-Emissionen, die global anzugehen ist, erfordert die Belastung mit Feinstaub und Stickoxid-Emissionen in Städten lokale Antworten. Zwar sind die von Menschen verursachten Emissionen von Feinstaub (PM10) und Stickoxiden laut Umweltbundesamt von 1995 bis 2016 insgesamt um 38 % beziehungsweise 44 % zurückgegangen, woran der Verkehrsbereich einen großen Anteil hatte. Dennoch werden die gesetzlich festgelegten Grenzwerte an einigen Messstationen überschritten. Dies ist allerdings ein lokales Problem und eigentlich kein europäisches.
Vor deutschen Gerichten klagt aus gleichem Grund insbesondere die Deutsche Umwelthilfe gegen verschiedene Länder wegen ihrer Luftreinhalteplanung. Die Umsetzung der EU-Richtlinie 2008/50/EG in der 39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (39. BImSchV, 2010) sieht zum Schutz der menschlichen Gesundheit vor, dass der Stickstoffdioxidgrenzwert von 200 Mikrogramm pro Kubikmeter (gemittelt über eine Stunde) höchstens 18 Mal im Kalenderjahr überschritten werden darf (§ 3 Absatz 1 BImSchV). Gegen die Regelung wurde im Jahr 2010 noch an sieben Messstationen und im Jahr 2017 an keiner mehr verstoßen. Ein zweiter Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft bezieht sich auf das Jahresmittel des gesamten Kalenderjahres (§ 3 Absatz 2 BImSchV). Dieser Wert wurde im Jahr 2010 von 49 % der städtischen Messstationen überschritten, im Jahr 2017 von 35 %. Abbildung 6 unten
(29) Für 40 % der Stickoxid-Emissionen war im Jahr 2016 der Verkehr verantwortlich, und davon entfielen 91 % auf Diesel-Fahrzeuge, Abbildung 6 mitte wobei die Zahlen regional variieren können. In Deutschland ist der Anteil der mit Diesel betriebenen Fahrzeuge, begünstigt etwa durch steuerliche Vorteile, im internationalen Vergleich sehr hoch. Hinzu kommen Betrugsfälle im Zusammenhang mit der Zulassung von Diesel-Fahrzeugen. Schließlich wirft die Europäische Kommission der Bundesregierung in einem Vertragsverletzungsverfahren vor, die EU-Vorschriften bei der Typgenehmigung von Fahrzeugen zu missachten und Rechtsverstöße nicht ausreichend zu sanktionieren (Europäische Kommission, 2018e).
Zur Senkung der Stickoxid-Emissionen werden daher Anreize und Maßnahmen zur Umrüstung oder der Tausch bestehender Diesel-Fahrzeuge sowie Fahrverbote für bestimmte Schadstoffklassen in deutschen Städten diskutiert. Nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts dürfen Verbote in Umweltzonen verhängt werden, wenn diese verhältnismäßig und die einzig geeignete Maßnahme zur schnellstmöglichen Einhaltung der Grenzwerte sind (BVerwG, 2018). In einigen Städten wurden entweder bereits Fahrverbote von sich aus angeordnet, etwa für bestimmte Straßen in Hamburg (seit dem 31. Mai 2018), oder gerichtlich vorgeschrieben, wie etwa in Stuttgart, Frankfurt (ab dem 1. Januar 2019) und Berlin (ab dem 1. März 2019).
(30) Besser als ein Fahrverbot wäre jedoch eine Städte-Maut. Damit würden die Verursacher der Emissionen an deren Kosten beteiligt und die Benutzung emissionsärmerer Verkehrsmittel oder eine effizientere Nutzung von Fahrzeugen attraktiver. Dennoch hätten Haushalte und Unternehmen, etwa in den Wirtschaftsbereichen Gewerbe, Handel und Dienstleistungen, die Möglichkeit, die betroffenen Fahrzeuge weiterhin zu nutzen, wenn es sich zu den höheren Kosten noch für sie rechnet. Es käme zu einer Verteilung der Kosten an der Verbesserung der Luftqualität nach dem Verursacherprinzip, wohingegen Fahrverbote die Kosten vollständig den vom Verbot betroffenen Fahrzeughaltern aufbürden. Im Gegensatz zu einem Verbot macht die Maut die betroffenen Diesel-Fahrzeuge für eine Stadtfahrt nicht wertlos, sondern verteuert lediglich ihre Nutzung.
Die Höhe der Maut könnte sich nach der lokalen Belastung, der Tageszeit und dem Emissionsausstoß des Fahrzeugs richten. Im Optimalfall wäre sie dynamisch abhängig von der Nachfrage (Cramton et al., 2018). Die Maut würde so die Kosten der externen Effekte sichtbar machen. Die Umsetzung könnte wie bei einem Fahrverbot auf Stichproben in Verbindung mit Strafen oder neuen Technologien beruhen, wie etwa bei der Erkennung von Nummernschildern durch Verkehrskameras in London.
(31) Eine Maut könnte sich zudem nicht nur an Diesel-Fahrzeuge richten. So verursachen Dieselmotoren zwar mehr Stickoxid-Emissionen als andere Antriebsformen, dies gilt jedoch nicht für andere negative externe Effekte des Verkehrs wie Lärm, Verstopfung der Straßen, die Rivalität mit einer anderen Nutzung der Fläche (zum Beispiel Wohnraum), CO2-Emissionen oder Feinstaub. So sind etwa 85 % des verkehrsbedingten Feinstaubs, der 20 % bis 25 % des gesamten Feinstaubs ausmacht, unabhängig vom Antrieb durch Aufwirbelungen und Abriebprozesse verursacht (LUBW, 2017). Abbildung 6 mitte
(32) In Städten, die bereits eine solche Maut eingeführt haben, lassen sich die möglichen Effekte näherungsweise beobachten. Der Verkehr hat sich erwartungsgemäß in den Stadtteilen mit einer Städte-Maut in Singapur (Olszewski und Xie, 2005), London (Santos und Fraser, 2006), Mailand (Gibson und Carnovale, 2015), Göteborg (Börjesson und Kristoffersson, 2015) und Stockholm (Eliasson et al., 2009) stark reduziert.
In Stockholm etwa sanken die Personenfahrten um ungefähr 25 % im Vergleich zur Zeit vor der Einführung (Eliasson, 2014), wozu Fahrten zur und von der Arbeitsstelle, die auf den öffentlichen Nahverkehr verschoben wurden, mit zehn Prozentpunkten beitrugen. Private Fahrten, die mit anderen Zielen oder weniger häufig durchgeführt wurden, machten sechs Prozentpunkte und professionelle Fahrten, wie Taxi oder Lieferungen, fünf Prozentpunkte aus. In London wurde ein Drittel der Fahrten eingespart, vor allem durch Reduktion der Freizeitfahrten sowie einen Umstieg auf andere Transportmittel (Transport for London, 2008). Zudem kam es in den Städten zu einem Rückgang von Fahrtzeiten (Eliasson, 2014), Verkehrsunfällen und Unfallquoten (Green et al., 2016).
Dabei sind unterschiedlich starke Reduktionen der Umweltbelastungen zu beobachten, was jedoch vor allem von der Ausgestaltung der Systeme und möglichen Ausweichmöglichkeiten abhängt. In Stockholm etwa sind die Stickoxide nur um 8,5 % zurückgegangen, weil nach Einführung der Maut ältere und emissionsträchtigere öffentliche Busse häufiger eingesetzt wurden (Eliasson, 2014). In London waren ebenfalls nur moderate Reduktionen beobachtbar (Transport for London, 2008). In Mailand hingegen reduzierten sich die Konzentrationen von schwarzem Kohlenstoff (Invernizzi et al., 2011) und CO2 (Gibson und Carnovale, 2015) signifikant. Die Umweltwirkungen hängen vom Substitutionsverhalten, etwa hin zu Fahrzeugen mit höheren Emissionen (Gallego et al., 2013), und der Ausnutzung von Schlupflöchern in den Politikmaßnahmen (Davis, 2008) ab. Umso mehr sollte ein Verbot oder eine Maut dies berücksichtigen und sich nicht nur auf einzelne Antriebsformen beziehen.
In Bezug auf die Änderung des Nutzungsverhaltens konnten in Stockholm keine Unterschiede über Einkommensgruppen hinweg festgestellt werden (Karlström und Franklin, 2009). Eine Übersicht der OECD (ITF, 2018) zu Studien von Straßenbenutzungsgebühren bezeichnet insgesamt die Verteilungswirkung als gering, wenngleich Haushalte in speziellen Teilbereichen einer Stadt oder mit speziellen sozio-demografischen Eigenschaften stärker betroffen sein könnten. Je nach Ausgestaltung kann die Einführung eine progressive oder regressive Wirkung entfalten (Santos und Rojey, 2004; Bureau und Glachant, 2008; Hall, 2018; ITF, 2018). In London hat sich in Umfragen die generelle Einschätzung zur Bezahlbarkeit von Mobilität vor und nach der Einführung nicht geändert (Transport for London, 2008).
- Hinwirken auf einen globalen, einheitlichen CO2-Preis als Leitinstrument
- Stärkung des EU-ETS und Einbezug aller Endverbraucher zur effektiven Sektorkopplung
- Lokale Lösungen für Stickoxid- und Feinstaub-Probleme, etwa durch Städte-Maut
III. EUROPA: BREXIT ABFEDERN, EU UND EURO-RAUM STÄRKEN
(33) Die globalen Herausforderungen unterstreichen den Wert der Europäischen Union als politisches Projekt, das den Frieden unter den Mitgliedstaaten fördert und zum Wohlstand in Europa beiträgt: Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und China sind einzelne europäische Staaten eher klein, sodass die Mitgliedstaaten der EU gut beraten sind, auf die Potenziale eines gemeinsamen Wirtschaftsraums zu setzen. Darüber hinaus kann nur ein geeintes Europa in internationalen Verhandlungen und Auseinandersetzungen mit dem nötigen Gewicht auftreten.
Doch derzeit wird die EU durch den Austritt des Vereinigten Königreichs (Brexit) und den Aufstieg europaskeptischer Parteien etwa in Italien, den Niederlanden oder Österreich zunehmend infrage gestellt. Die Politik sollte der wachsenden Skepsis gegenüber der EU und der Europäischen Währungsunion durch geeignete Maßnahmen zur Stärkung dieser Institutionen begegnen. Dies wäre zugleich eine sinnvolle Reaktion auf die internationalen Handelskonflikte.
1. Verwerfungen durch den Brexit abwenden
(34) Bei den Verhandlungen über die Regelung des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU und die künftige Beziehung der beiden Partner wurde bislang keine endgültige Einigung erzielt. Im März 2018 haben sich die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Vertreter der EU zwar grundsätzlich über große Teile eines Austrittsabkommens verständigt (Europäische Kommission, 2018f). Es enthält insbesondere die Vereinbarung einer Übergangsperiode, die vom 30. März 2019 bis zum 31. Dezember 2020 dauern soll. In dieser Zeit würden die Regulierungen der EU im Großen und Ganzen weiterhin für das Vereinigte Königreich gelten. Das Vereinigte Königreich wäre jedoch nicht mehr an den Entscheidungen der EU beteiligt.
Diese Übergangsperiode tritt jedoch nur in Kraft, wenn das gesamte Austrittsabkommen abschließend verhandelt und verabschiedet ist und es eine politische Übereinkunft zum Rahmenwerk der zukünftigen Beziehungen gibt, also über ein Folgeabkommen für die Zeit nach Ablauf der Übergangsperiode. Derzeit wird parallel über beides verhandelt. Nachdem es beim Europäischen Gipfel im Oktober zu keinem Kompromiss gekommen ist, ist es nach wie vor möglich, dass die Verhandlungen nicht rechtzeitig zu einer Einigung führen, und die Gefahr eines ungeordneten Brexit ist nach wie vor nicht gebannt.
„No Brexit“ statt „No deal“
(35) Die Ausgestaltung der zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und den verbleibenden Mitgliedstaaten der EU ist entscheidend dafür, welche Auswirkungen der Brexit auf die weitere wirtschaftliche Entwicklung beider Regionen haben wird. Selbst bei einer Einigung auf ein umfassendes Freihandelsabkommen zwischen beiden Partnern entstünden im Vergleich zum Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU in vielen Bereichen Friktionen, etwa durch unterschiedliche Regulierungen oder eventuell erforderliche Grenzkontrollen. Diese könnten zu erheblichen Änderungen in den international integrierten Wertschöpfungsketten führen. Zudem ist die britische Wirtschaft auf ausländische Arbeitskräfte aus der EU angewiesen, die je nach Folgeabkommen nur noch eingeschränkt zur Verfügung stehen dürften.
(36) Dies dürfte mit negativen Auswirkungen verbunden sein, insbesondere für die Volkswirtschaft des Vereinigten Königreichs, aber in abgeschwächter Form ebenfalls für die dann verbleibenden Mitgliedstaaten der EU. Ein besonderes Augenmerk gilt in diesem Zusammenhang dem Finanzsektor, der von großer Bedeutung für die Volkswirtschaft des Vereinigten Königreichs ist. Gleichzeitig spielen die dort ansässigen Institute eine wichtige Rolle für die Unternehmen der EU-Mitgliedstaaten, etwa in den Bereichen Clearing und Derivate. Kasten 14 seite 274
Der Brexit dürfte dazu führen, dass Finanzmarktakteure im Vereinigten Königreich ohne ein entsprechendes Abkommen über die Drittstaatenäquivalenzregelung nur einen eingeschränkten Zugang zum EU-Markt erhalten würden. Kasten 14 Die Banken müssten je nach Geschäftsart Anpassungen, wie etwa die Gründung von Tochterunternehmen in der EU, vornehmen, um weiterhin Leistungen anbieten zu können. Einschätzungen zu den Risiken für die Finanzstabilität sind mit hoher Unsicherheit behaftet. Die EZB (2017) geht jedoch nicht davon aus, dass sich die Verfügbarkeit von Finanzdienstleistungen durch den Brexit verschlechtert, wenngleich deren Kosten steigen könnten. In Anbetracht der Unsicherheit könnte es von Vorteil sein, wenn sich das Vereinigte Königreich und die EU auf zeitlich befristete Ausnahmeregelungen verständigen würden, die Finanzmarktakteuren unabhängig vom Zustandekommen eines Austrittsabkommens über den Austrittstermin hinaus Zugang zu den jeweiligen Märkten gewähren. Kasten 14
(37) Sollte es den Verhandlungspartnern nicht gelingen, sich auf ein umfassendes Handelsabkommen zu einigen, würde das Vereinigte Königreich gegenüber den verbleibenden EU-Staaten zu einem Drittstaat werden, für den im internationalen Handel die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) gelten. Dies würde den Zugang für britische Waren in den europäischen Binnenmarkt erschweren und dazu führen, dass die EU – im Einklang mit dem Meistbegünstigungsprinzip der WTO – Zölle auf diese Waren erheben müsste. Das Vereinigte Königreich könnte seine Zölle nach dem Brexit eigenständig bestimmen, müsste sich dabei aber an die Regelungen der WTO halten. So muss etwa bereits die vom Vereinigten Königreich beabsichtigte vorläufige Übernahme der EU-Außenzölle durch die übrigen WTO-Mitglieder geprüft werden.
Da das Vereinigte Königreich bisher als Teil der EU Mitglied der WTO war, erfordert sein Ausscheiden zusätzliche Verhandlungen innerhalb der WTO über bisher für die EU insgesamt geltende Regelungen, etwa für Quoten und Subventionen. Die Neuregelung könnte durch die übrigen WTO-Mitglieder je nach Verfahren abgewiesen werden, was vor allem bei Quoten und Kontingenten zu schwierigen Verhandlungen führen könnte (Tietje, 2017). Mit dem Brexit dürfte das Vereinigte Königreich zudem die Teilhabe an bestehenden Freihandelsabkommen der EU verlieren und müsste gegebenenfalls mit den jeweiligen Handelspartnern eigenständig umfassende Abkommen abschließen.
(38)Schätzungen der ökonomischen Auswirkungen des Brexit sind mit großer Unsicherheit behaftet, nicht zuletzt aufgrund der immer noch herrschenden Unklarheit über die Ausgestaltung der zukünftigen Beziehungen (JG 2016 Ziffern 306 ff.). Studien, die versuchen, den Effekt des Brexit auf die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung zu quantifizieren, betrachten deshalb stilisierte Szenarien, die jeweils verschiedene mögliche Verhandlungslösungen abbilden. Neben ihren spezifischen Annahmen für die einzelnen Szenarien unterscheiden sich die Studien in den gewählten Analysemethoden(JG 2016 Ziffern 311 ff.). In vielen Studien werden allgemeine Gleichgewichtsmodelle herangezogen, welche die Handelsbeziehungen zwischen den Partnern detailliert abbilden, während andere Analysen sparsam parametrisierte, dynamische makroökonomische Modelle oder ökonometrische Schätzungen nutzen.
(39) Der bei Weitem überwiegende Teil der Studien kommt für alle betrachteten Szenarien zu dem Ergebnis, dass sich der Brexit negativ auf die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs auswirken würde Abbildung 7 links(JG 2016 Tabelle 17). Die Auswirkungen sind umso stärker, je mehr Einschränkungen für den wirtschaftlichen Austausch mit den gewählten Szenarien einhergehen. Die Effekte auf die verbleibenden Mitgliedstaaten der EU wären ebenfalls negativ, wenngleich deutlich geringer. Abbildung 7 rechts Je nach bisheriger wirtschaftlicher Verflochtenheit mit dem Vereinigten Königreich unterscheidet sich dabei der Grad der Betroffenheit deutlich; so dürfte etwa Irland besonders stark unter einem Brexit leiden (Vandenbussche et al., 2017; IWF, 2018b).
(40) Angesichts der zu erwartenden negativen wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen wäre es aus Sicht des Sachverständigenrates weiterhin die beste Lösung, wenn das Vereinigte Königreich und die Verhandlungspartner einen Weg fänden, den Brexit noch zu verhindern. Die EU könnte dabei beispielsweise zusichern, etwaige rechtliche Hürden für eine Umkehr der Entscheidung (JG 2016 Ziffer 289) nach einem zweiten Referendum zu beseitigen. Gelingt eine Umkehr nicht, sollten die Partner ein Abkommen schließen, das möglichst weite Teile der wirtschaftlichen Integration und der politischen Zusammenarbeit aufrechterhält.
Hierbei gilt es jedoch sicherzustellen, dass nicht der Eindruck eines „Rosinenpickens“ durch das Vereinigte Königreich entsteht. Für einen Drittstaat, der das Vereinigte Königreich dann wäre, sollten keine vorteilhafteren Regelungen gelten als für Mitgliedstaaten der EU. Dies könnte sonst einen Präzedenzfall darstellen, der zukünftige Konflikte innerhalb der verbleibenden EU verstärken und die Stabilität des Europäischen Binnenmarkts beschädigen könnte.
(41) Um das Abkommen zur Regelung der zukünftigen Beziehungen zu verhandeln, verbleibt nur noch sehr wenig Zeit. Es gäbe zwar Möglichkeiten den Verhandlungen mehr Zeit einzuräumen: So sollte die EU den Abschluss des bereits weit fortgeschritten Austrittsabkommens inklusive Übergangsperiode von einer Einigung über die zukünftige Zusammenarbeit trennen. Damit wäre das Risiko eines ungeordneten Brexit in der kurzen Frist vermindert, da unter weitgehender Beibehaltung des Status quo weitere 21 Monate für Verhandlungen genutzt werden könnten. Diese wären im Vergleich zu der üblichen Dauer von Verhandlungen über umfassende Freihandelsabkommen allerdings bereits kurz bemessen. Die wenigen Wochen bis Anfang 2019 könnten sowieso nur für eine oberflächliche politische Übereinkunft ausreichen.
Alternativ könnten die EU-Mitgliedstaaten gemeinsam die generelle Frist, gesetzt durch Artikel 50 EUV, für die Austrittsverhandlungen verlängern(JG 2016 Ziffer 289). Demgegenüber könnte ein Festhalten an den gesetzten Fristen jedoch den Druck auf die Verhandlungspartner aufrechterhalten, eine Einigung herbeizuführen, und im positiven Fall zu einer besseren Lösung führen.
(42) Die Gefahr eines ungeordneten Brexit, auf den es hinauslaufen wird, wenn bis Ablauf der Frist kein Abkommen zustande kommt, darf nicht unterschätzt werden. Denn im Gegensatz zu anderen Verhandlungen würde man im Falle des Brexit nicht auf den Status quo zurückfallen, wenn keine Einigung erzielt wird. Ein überstürzter Austritt des Vereinigten Königreichs bei einem Scheitern der Verhandlungen könnte daher zu einer schweren Disruption der Wirtschaftsaktivität im Vereinigten Königreich und in der EU führen.
So wäre das Vereinigte Königreich dann ohne klare Beziehung zu seinen Handelspartnern und möglicherweise müssten über Nacht zusätzliche Grenz- und Zollkontrollen eingeführt werden. Der größte Teil der europäischen Gesetze bliebe jedoch erst einmal weiterhin unverändert, dann als Teil der britischen Gesetzgebung. Dies wurde durch die am 26. Juni 2018 in Kraft getretene „EU Withdrawal Bill“ sichergestellt. Jedenfalls sollte die Bundesregierung weiterhin entsprechende Vorbereitungen für den Fall eines ungeordneten Brexit treffen.
Umfangreiches Freihandelsabkommen als Minimallösung
(43) Bei den Austrittsverhandlungen ist insbesondere die Ausgestaltung des zukünftigen Zugangs des Vereinigten Königreichs zum europäischen Binnenmarkt von entscheidender Bedeutung. Eng damit verbunden sind die Frage der Mitgliedschaft in der Europäischen Zollunion und der Regelungen bezüglich der Grenze zwischen Irland und Nordirland.
(44) Im Juli wurde von der Regierung des Vereinigten Königreichs ein „White Paper“ mit Vorstellungen zur zukünftigen Beziehung des Vereinigten Königreichs mit der EU („Chequers Plan“) veröffentlicht (UK Government, 2018b).
- Im Bereich des Warenhandels sieht das Papier vor, dass das Vereinigte Königreich de facto weiterhin am gemeinsamen Binnenmarkt teilnimmt und dafür das entsprechende Regelwerk der EU übernimmt. Dennoch möchte das Vereinigte Königreich eigene Freihandelsabkommen mit Drittstaaten abschließen können. Dies soll durch das „Facilitated Customs Arrangement“ ermöglicht werden, bei dem das Vereinigte Königreich je nach Ziel des Gutes an der Grenze unterschiedliche Zölle erhebt. Nach wie vor ist allerdings unklar, wie dies in der Praxis, rechtlich und ohne großen bürokratischen Aufwand funktionieren könnte. EU-Verhandlungsführer Barnier hat bereits seine Skepsis darüber ausgedrückt (Europäische Kommission, 2018g). Eine offene Frage war dabei, wie ein Land Zolleinnahmen für die EU einnehmen könne, ohne von der EU überwacht zu werden.
- Für den Dienstleistungsbereich, der etwa 42 % der Exporte des Vereinigten Königreichs in die EU ausmacht, sieht das Papier keine vollständige Übernahme der EU-Regulierungen vor. Hierdurch könnte das Vereinigte Königreich im Dienstleistungsbereich andere, eventuell niedrigere, Standards als die EU zulassen, beispielsweise im Wettbewerbsrecht, Arbeits- und Konsumentenschutz, in der Finanzmarktregulierung oder dem Umweltrecht. Dafür hätten britische Dienstleistungsunternehmen, nicht zuletzt im für die britische Volkswirtschaft besonders wichtigen Finanzbereich, aber nicht mehr den uneingeschränkten Zugang zum europäischen Binnenmarkt.
(45) Ein Hauptproblem des Vorschlags besteht darin, dass es dem Vereinigten Königreich dadurch gestattet würde, lediglich an einem Teil der vier Grundfreiheiten der EU teilzunehmen. Dies stünde im Widerspruch zu den vom Europäischen Rat (2017) beschlossenen Leitlinien für die Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich. Diese sehen vor, dass ein Nicht-Mitgliedstaat ohne die Pflichten eines Mitgliedstaats nicht dieselben Rechte und Vorteile haben darf wie ein Mitgliedstaat. Das im White Paper skizzierte Abkommen würde einem Schweizer Modell ähneln, das ebenfalls nur den freien Güterverkehr umfasst, nicht hingegen Dienstleistungen. Dies wird von vielen Staats- und Regierungschefs sowie der Europäischen Kommission jedoch eher abgelehnt.
(46) Als Alternative hat der ehemalige Außenminister Johnson (2018) ein „Super-Canada“-Freihandelsabkommen vorgeschlagen, das auf dem Freihandelsabkommen zwischen Kanada und der EU aufbaut (CETA). Dies würde keine Zölle und Quoten auf sämtliche Importe und Exporte und eine gegenseitige Anerkennung der Regulierungen und Standards vorsehen. Bis auf wenige Ausnahmen würden alle Dienstleistungssektoren in das Abkommen eingeschlossen. Um Zollkontrollen zu erleichtern, sollen neue Technologien und vereinfachte Zollverfahren genutzt werden.
(47) CETA ist jedoch ein Freihandelsabkommen und keine Zollunion, womit Zollkontrollen etwa im Hinblick auf die Herkunft der Waren oder die Einhaltung von Standards notwendig werden. Die EU importiert aus dem Vereinigten Königreich das Neunfache der Importe aus Kanada. In CETA gibt es keine gegenseitige Anerkennung von Regulierungen, sondern der jeweilige Exporteur muss zeigen, dass seine Produkte sich an die Regulierungen im Zielland halten. Zudem enthält CETA weder umfassende Regeln für die Migration oder für Dienstleistungen, noch Passporting-Rechte für den Finanzsektor.
(48) Eine wichtige Frage für den Abschluss des Austrittsabkommens lautet, wie eine „harte Grenze“, gekennzeichnet etwa durch Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland, verhindert werden kann. Die EU hat dies zur Wahrung des Friedens in Nordirland als Bedingung für ein Austrittsabkommen gemacht und Vertreter des Vereinigten Königreichs haben dies ebenfalls bekräftigt. Im Chequers Plan und im „Super-Canada“-Vorschlag sollen technische Lösungen Grenzkontrollen ersetzen. Zudem wäre eine „harte Grenze“ bei Abschluss eines umfassenden Zoll- und Freihandelsabkommens nicht nötig. Da möglicherweise weder technische Lösungen gefunden noch ein Nachfolgeabkommen abgeschlossen werden können, verlangt die EU mit dem Abschluss des Austrittseinkommens eine Auffanglösung (Backstop), über die jedoch noch verhandelt wird.
(49) Kann der Brexit nicht mehr verhindert werden, sollte es das Ziel sein, ein Nachfolgeabkommen zu schließen, das für beide Seiten den Schaden minimiert(JG 2016 Ziffer 289). Dabei sollte, unter Verhinderung eines „Rosinenpickens“ bei allen vier Grundfreiheiten, eine möglichst weitgehende Öffnung angestrebt werden. Keines der bestehenden Freihandelsabkommen der EU mit anderen Regionen wird diesen Anforderungen gerecht, weshalb ein umfassenderes Abkommen, das Regelungen für Waren, Dienstleistungen und Migration und zudem für die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik einschließt, der richtige Weg sein könnte. Dabei sollten insgesamt die Verhandlungen zum Brexit nicht mit allgemeinen Themen der Standortdiskussion vermischt werden. So konzentrierte sich die öffentliche Debatte in den vergangenen Monaten oft auf die Ansiedlung von Unternehmen und öffentlichen Institutionen.
- Wenn möglich Verhinderung des Brexit und Schaffung rechtlicher Klarheit für die Möglichkeit einer Umkehr
- Abwendung eines ungeordneten Brexit, aber Vorbereitung auf dessen mögliche Auswirkungen
- Verhandlung eines möglichst umfassenden Abkommens, ohne „Rosinenpicken“ für das Vereinigte Königreich zuzulassen
2. Die EU auf ihren Mehrwert fokussieren
(50) Durch den Brexit würden im aktuellen EU-Haushalt etwa 8 % der Nettoeinnahmen wegfallen. Dies würde eine Neuordnung der Finanzen der EU notwendig machen. Zwar wird das Vereinigte Königreich je nach Abkommen nach dem Brexit weiterhin noch Beiträge an die EU entrichten müssen (JG 2016 Ziffern 324 ff.). Jedoch kann der neu zu verhandelnde Mehrjährige EU-Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 als Chance begriffen werden, um diesen auf den europäischen Mehrwert zu fokussieren. Dies erfordert zum einen eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips bei der Zuordnung der Aufgaben und eine daran ausgerichtete Neuordnung der finanziellen Ressourcen der EU, zum anderen einen effizienteren Einsatz der Kohäsions- und Strukturfonds der EU.
Stärkung des Subsidiaritätsprinzips
(51) Im Koalitionsvertrag (Bundesregierung, 2018a) wurde pauschal vereinbart, die EU finanziell zu stärken und mehr Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen. Sinnvoller wäre es jedoch, zuerst die Schwerpunkte zu definieren, in denen die EU zusätzliche oder größere Aufgaben übernehmen soll, um dann den daraus resultierenden Finanzierungsbedarf zu ermitteln. Ausgaben der EU sollten einen Mehrwert gegenüber der Finanzierung aus nationalen Töpfen schaffen. Es sollten also das Subsidiaritätsprinzip gestärkt und die EU auf Aufgabenfokussiert werden, die aufgrund steigender Skaleneffekte oder positiver wie negativer Externalitäten bei Berücksichtigung heterogener politischer Präferenzen auf der supranationalen Ebene besser angesiedelt sind (JG 2016 Ziffern 331 ff.).
Bei einigen Ausgaben im aktuellen Haushalt ist dieser Mehrwert fraglich. Weitere Aufgaben oder Kompetenzen auf die europäische Ebene zu verschieben, die keinen oder nur einen geringen europäischen Mehrwert aufweisen, ist nicht sinnvoll. Neue Aufgaben, die erhebliche Verteilungseffekte auslösen, erfordern eine stärkere demokratische und rechtsstaatliche Legitimation, als im derzeitigen Staatenverbund erreichbar ist. Sie setzen daher die Schaffung einer politischen Union voraus.
(52) Der europäische Mehrwert ist für Bereiche wie den gemeinsamen Binnenmarkt und die Wettbewerbspolitik, den Außenhandel, den Klimaschutz, die Finanzmarktaufsicht und die Kapitalmarktunion unmittelbar ersichtlich (JG 2016 Ziffer 336). Bereiche, die ebenfalls in diese Kategorie fallen, in der die EU ihre Kompetenzen und Ressourcen ausbauen könnte, sind die öffentliche Sicherheit im weiteren Sinne, die Infrastruktur sowie Grundlagenforschung:
- Ein gemeinsames Vorgehen in der Außenpolitik und Entwicklungshilfe ist aufgrund des geringen Gewichts jedes Einzelstaates sinnvoll. In der Verteidigungspolitik sind große Skaleneffekte und Effizienzpotenziale durch eine Bündelung von Ressourcen zu erwarten. Gerade innerhalb des Schengen-Raums wäre es sinnvoll, den Schutz der Außengrenzen und die Migrations- und Asylpolitik auf europäischer Ebene anzusiedeln. Zudem erfordert die Bekämpfung von internationaler Kriminalität und Terrorismus, einschließlich der Geldwäsche, ein grenzüberschreitendes Vorgehen.
- Der Ausbau einer europäischen Infrastruktur, beispielsweise im Bereich der Stromnetze, dürfte mit positiven externen Effekten für die Mitgliedstaaten einhergehen. Bei der Ausgestaltung ist jedoch auf das Subsidiaritätsprinzip und auf Effizienz im Hinblick auf die Zielerreichung zu achten. Zur Infrastruktur zählt ebenfalls die Umsetzung des digitalen EU-Binnenmarkts. Ziffer 143 Zudem ist die Förderung der Grundlagenforschung mit positiven externen Effekten für die Mitgliedstaaten verbunden.
(53) Gleichzeitig gibt es Bereiche, in denen die EU gemessen an ihrem europäischen Mehrwert bisher zu viele Ressourcen eingesetzt hat. Dazu zählt etwa die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP). Die Direktzahlungen an Landwirte machen aktuell 72 % der Ausgaben der GAP aus. Diese stellen eine Einkommensbeihilfe dar, die jedoch zielgerichtet und effizienter über die nationalen sozialen Sicherungssysteme zu bewerkstelligen wäre (Weiss et al., 2017). Da die Direktzahlungen an die Größe der Landwirtschaftsflächen geknüpft sind, erhalten Landwirte aus den oberen 10 % der Einkommensverteilung rund 55 % der Direktzahlungen (von Cramon-Taubadel, 2017).
Das Argument einer sicheren Nahrungsmittelversorgung kann Zahlungen in diesem Umfang ebenso wenig rechtfertigen (von Cramon-Taubadel, 2017) wie der Umweltschutz. So hat etwa der Europäische Rechnungshof (2017) festgestellt, dass die Direktzahlungen mit umweltpolitischer Zielsetzung („greening“) hohe Mitnahmeeffekte hatten und wahrscheinlich ineffektiv gewesen sind, da die Auflagen überwiegend lediglich normaler landwirtschaftlicher Praxis entsprechen.
(54) Der zu Beginn der Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 unterbreitete Vorschlag der Europäischen Kommission (2018h) sieht lediglich leichte Verschiebungen in den Anteilen verschiedener Ausgabengruppen vor. Abbildung 8 Allerdings sollte der neue Finanzrahmen bei laufenden Preisen und mit einem um die Ausgaben für das Vereinigte Königreich bereinigten vormaligen Haushalt verglichen werden: Bei diesem Vergleich zeigt sich, dass die nominalen Ausgaben in allen Bereichen deutlich zunehmen würden (van Deuverden, 2018). Die Einnahmen sollen dabei unter anderem über eine Erhöhung der Eigenmittelobergrenze und über neue Eigenmittel(-kategorien) der EU erhöht werden. Dazu könnten etwa ein Anteil basierend auf den nationalen Einnahmen aus dem EU-ETS oder ein Beitrag gehören, der sich am jeweiligen Anteil an der Gemeinsamen Konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage orientiert (BMF, 2018).
Während die Verschiebung der Anteile zwar in die richtige Richtung geht, wären die Verhandlungen für den nächsten Finanzrahmen eine Chance, den EU-Haushalt grundlegender zu verändern. Dabei sollten bestehende Zielkonflikte offengelegt werden (Heinemann und von Cramon-Taubadel, 2017).
(55) In der Erklärung von Meseberg (Bundesregierung, 2018b) sprechen sich Deutschland und Frankreich für einen eigenen Haushalt für den Euro-Raum aus. Dieser soll, durch „Investitionen in Innovationen und Humankapital“, „die Wettbewerbsfähigkeit, Annäherung und Stabilisierung“ im Euro-Raum fördern. Grundsätzlich wäre ein stärkeres Engagement der EU in diesen Bereichen bei Wegfall der nationalen Ausgaben mit einer Fokussierung auf den europäischen Mehrwert vereinbar. Jedoch existieren bereits verschiedene europäische Budgets zur Verfolgung dieser Ziele. Unter anderem ist fraglich, wie sich der neue Haushalt im Verhältnis zu den Förderungen durch die Kohäsions- und Strukturfonds verhält. Eigentlich sind diese bereits für Investitionen zur Angleichung der Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz in der EU vorgesehen. Der Europäische Fonds für Strategische Investitionen (EFSI) als Teil des Juncker-Plans soll ebenfalls Investitionen in der EU fördern. Zudem ist das Verhältnis zum gesamten EU-Haushalt unklar, wenn nach dem Brexit ungefähr 86 % der Wirtschaftsleistung der EU im Euro-Raum vertreten sein wird und die Überwachung durch das Europäische Parlament sich eigentlich auf den gesamten EU-Haushalt erstreckt.
Laut Hintergrundpapier zur Erklärung von Meseberg des deutschen und des französischen Finanzministers soll der Haushalt für den Euro-Raum zusätzlich eine makroökonomische Stabilisierungsfunktion erfüllen. Es werden dafür zwei Optionen diskutiert, eine Stundung der Beitragszahlungen an den Haushalt und eine Arbeitslosenrückversicherung. Beide haben Ähnlichkeiten mit den in Ziffer 70 diskutierten fiskalischen Ausgleichsmechanismen.
Kohäsions- und Strukturfonds effektiver einsetzen
(56) Rund ein Viertel der EU-Ausgaben entfällt auf die Kohäsions- und Strukturfonds (unter anderem für den Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE), den Europäischen Sozialfonds (ESF) und den Kohäsionsfonds). Prinzipiell ist es im Interesse der EU, wirtschaftlich schwächere Regionen zu unterstützen, wie es in den EU-Verträgen festgeschrieben ist. Allerdings haben diese Mittel sehr unterschiedliche Effekte über die Regionen: In manchen Regionen haben Strukturmittel anscheinend viel bewirkt, in anderen gar nichts (Breidenbach et al., 2018).
In vielen, zu einem großen Teil ärmeren Regionen, werden nicht einmal alle zur Verfügung gestellten Mittel abgerufen. So wurden im aktuellen Mehrjährigen Finanzrahmen im Zeitraum von 2014 bis Oktober 2018 erst 61 % der zur Verfügung stehenden Mittel der Kohäsions- und Strukturfonds Projekten zugewiesen, wovon lediglich 19 Prozentpunkte faktisch ausbezahlt wurden (Europäische Kommission, 2018i). Gründe dafür waren etwa der späte Start der aktuellen Auszahlungsperiode, nicht vorhandene lokale Mittel zur Kofinanzierung und fehlende Ressourcen in den Verwaltungsbehörden. Ein Bürokratieabbau bei Antragstellung, Bearbeitung und Betreuung der EU-Projekte könnte helfen, die Mittel auszuzahlen. Eine bessere Absorption der europäischen Fördermittel sollte jedoch nicht auf Kosten der Effektivität der eingesetzten Mittel geschehen. So schätzt der Europäische Rechnungshof (2018a) für das Haushaltsjahr 2017 eine Fehlerquote für erstattungsbasierte Zahlungen in Höhe von 3,7 %.
(57) In Deutschland gibt es derzeit sieben Übergangsregionen (BIP pro Kopf größer als 75 % und kleiner als 90 % des EU-Durchschnitts), die im Zeitraum von 2014 bis 2020 insgesamt ungefähr 10 Mrd Euro aus den verschiedenen Strukturfonds der EU erhalten. Auf Basis aktueller BIP-Zahlen wären nur noch zwei dieser Regionen förderberechtigt (Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt), nach dem Brexit nur noch eine (Mecklenburg-Vorpommern). Ungefähr 9 Mrd Euro gehen im Zeitraum von 2014 bis 2020 an entwickelte Regionen Deutschlands (BIP pro Kopf größer als 90 %).
Zum einen liegt es also nicht am Brexit, dass in der nächsten Periode nur noch eine oder zwei deutsche Regionen höhere Zahlungen für Übergangsregionen aus den Strukturmitteln empfangen werden, sondern an Deutschlands wirtschaftlichem Erfolg. Zum anderen stellt sich die Frage, ob die offenbar am besten entwickelten Regionen in der EU überhaupt noch Fördermittel erhalten sollten oder ob dies am eigentlichen Ziel der Fonds vorbeigeht. Denn ihr erklärtes Ziel ist die Förderung des wirtschaftlichen Aufholprozesses der ärmeren Regionen der EU. In den reicheren Regionen übernimmt die EU mit dieser Förderung wahrscheinlich Aufgaben, die eigentlich die nationale oder lokale Politik übernehmen sollte. Dies verstieße gegen das Subsidiaritätsprinzip.
(58) Statt nach dem Gießkannenprinzip Geld über die EU zu verteilen, sollte ein stärkerer Zusammenhang zwischen der Vergabe der Mittel und den mit europäischem Mehrwert einhergehenden Aufgaben der EU sowie den Zielen der europäischen Programme hergestellt werden. Werden die Gelder zielgerichtet vergeben, so kann selbst mit einem relativ zur Wirtschaftsleistung der EU kleinen Haushalt einiges bewirkt werden. Eine Möglichkeit, einen stärkeren Zusammenhang zwischen der Zuteilung und der Verwendung der Mittel herzustellen, bestünde darin, die Zahlungen an konkrete Projekte im Zusammenhang mit den länderspezifischen Empfehlungen der Europäischen Kommission zu knüpfen (JG 2016 Ziffer 38).
Der Europäische Rechnungshof (2018b) kritisiert ebenfalls die Projektvergabe. Diese sei von dem Ziel einer hohen Mittelabrufung, aber nicht von Ergebnisorientierung geprägt. Daher ließe sich nur schwer prüfen, inwieweit die verwendeten Mittel im Rahmen der geförderten Projekte tatsächlich zur Erreichung der EU-Ziele beitrügen. Besonders schwer wiege, dass das Monitoring der geförderten Projekte spät ansetze oder aber ungeeignete Indikatoren zur Ergebnisorientierung verwende.
- Stärkung des Subsidiaritätsprinzips in der EU und Fokus auf europäischen Mehrwert
- Ausrichtung finanzieller Ressourcen auf die so festgelegten Aufgaben der EU, etwa verstärkt für öffentliche Sicherheit, Infrastruktur und Grundlagenforschung
- Vergabe der Zahlungen der Struktur- und Kohäsionsfonds nicht nach dem Gießkannenprinzip, sondern gemäß ihren Zielen, insbesondere dem Konvergenzziel
3. Stabilität für den Euro-Raum
(59) Um den Euro-Raum dauerhaft zu stabilisieren, müsste zum einen die Europäische Zentralbank (EZB) den Übergang zu einer normalen Geldpolitik erfolgreich bewerkstelligen. Zum anderen müssten die Regierungen zu einer nachhaltigen Fiskalpolitik zurückkehren. Die Weiterentwicklung der Europäischen Währungsunion sollte vorangetrieben und die begonnenen Reformschritte in die richtige Richtung (Maastricht 2.0) fortgesetzt werden (JG 2012 Ziffern 174 ff.; JG 2013 Ziffern 269 ff.). Bei der Ausgestaltung von europäischen Institutionen ist auf das Subsidiaritätsprinzip sowie auf mögliche Anreizprobleme zu achten. Die Einheit von Haftung und Kontrolle muss gewahrt bleiben. Unbedingte Voraussetzung für die Weiterentwicklung ist allerdings, dass keine Regierung die Mitgliedschaft in der Währungsunion und deren Regelwerk infrage stellt. So steht das derzeitige Agieren der italienischen Regierung weiteren Integrationsschritten entgegen.
Fiskal- und Geldpolitik: Spielräume für Krisenzeiten schaffen
(60) Die gute wirtschaftliche Entwicklung im Euro-Raum gibt Anlass, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren, um fiskalische Spielräume für die Zukunft zu gewinnen, und die Geldpolitik zu normalisieren. Doch die Geldpolitik der EZB ist trotz eines deutlichen Inflationsanstiegs noch immer sehr expansiv ausgerichtet. Der Expansionsgrad wurde im Lauf des Jahres 2018 sogar noch gesteigert. Ziffer 347 Zwar beabsichtigt die EZB, die Nettozukäufe an Wertpapieren zum Jahresende zu beenden. Allerdings besteht das Risiko, dass die geldpolitische Wende zu spät und zu langsam kommt. Ziffern 361 ff. Dies könnte mit einer schneller als erwartet steigenden Inflation, Fehlallokationen von Krediten, Investitionen und Kapital sowie weiter zunehmenden Finanzstabilitätsrisiken einhergehen.
Der Sachverständigenrat hat daher eine Normalisierungsstrategie vorgelegt (JG 2017 Ziffern 358 ff.). Die EZB sollte ihrerseits eine Strategie für die Normalisierung der Geldpolitik veröffentlichen, um Verwerfungen an den Finanzmärkten zu vermeiden. Eine eher symmetrische Reaktion auf die makroökonomische Entwicklung wäre angemessen. Sinnvoll wäre es, die Forward Guidance zu einer Ratsprognose für Notenbankzinsen und -bilanz auszubauen. Zudem ist es an der Zeit, eine Vorgehensweise zur Reduktion der Notenbankbilanz zu entwickeln und zu kommunizieren. Ziffer 375
(61) Schließlich spricht die gute konjunkturelle Lage in vielen Mitgliedstaaten des Euro-Raums dafür, die nach wie vor hohen Schuldenstände zurückzuführen. Abbildung 9 oben Dadurch würden zusätzliche Spielräume auf nationaler Ebene für die Reaktion auf zukünftige länderspezifische Schocks geschaffen. Institutionelle Reformen zur Stärkungund besseren Durchsetzbarkeit des fiskalischen Regelwerks der EU könnten dies unterstützen. Kasten 1 Gerade die aktuelle Diskussion um den italienischen Haushalt zeigt einige Schwächen des bestehenden Regelwerks auf, die durch eine Reform zumindest eingedämmt werden könnten.
(62) Italien hat Mitte Oktober 2018 seinen Haushaltsentwurf für das Jahr 2019 für den Begutachtungsprozess im Rahmen des Europäischen Semesters bei der Europäischen Kommission eingereicht. Darin plant die italienische Regierung eine Ausweitung des Defizits und der Ausgaben, die laut Europäischer Kommission stark von den mit Zustimmung Italiens verabschiedeten Empfehlungen des Rates der Europäischen Union im Juli dieses Jahres abweichen (Dombrovskis und Moscovici, 2018). Abbildung 9 unten
Einer der Hauptpunkte, bei denen ein Dissens besteht, ist die Einschätzung zur zukünftigen Entwicklung der (potenziellen) Wirtschaftsleistung. Diese ist eine zentrale Größe in der Berechnung des strukturellen Defizits und somit von zentraler Bedeutung für die Überprüfung der Einhaltung der europäischen Defizitregeln. Die entscheidende Frage hierbei ist, ob und in welchem Umfang die zusätzlichen Ausgaben der italienischen Regierung, wie von ihr angeführt, das (Potenzial-)Wachstum erhöhen werden. Prognosen sowie Schätzungen all dieser Größen in Echtzeit sind mit großer Unsicherheit behaftet (JG 2016 Kasten 6). Eine korrekte Bewertung der Regeleinhaltung im bestehenden Fiskalregelwerk hängt jedoch substanziell davon ab. In einem reformierten Regelwerk könnte insbesondere die Bedeutung der in Echtzeit auftretenden etwaigen Schätzfehler abgeschwächt werden, indem Prognosefehler in einem Ausgleichskonto erfasst und innerhalb einer gegebenen Frist ausgeglichen würden. Kasten 1
(63) Im weiteren Prozess des Europäischen Semesters hat die Europäische Kommission Ende Oktober eine erste eigene Einschätzung zum Haushaltsplan vorgelegt und eine Verletzung der Vorgaben der gemeinsam verabschiedeten Empfehlung von Juli 2018 festgestellt (Europäische Kommission, 2018j). Die Europäische Kommission hat daher Italien aufgefordert, innerhalb von drei Wochen einen revidierten Haushaltsplan vorzulegen. Die Europäische Kommission weist jedoch keine Exekutivrechte auf, mit denen sie einen regelkonformen Haushaltsplan Italiens erzwingen könnte.
Stattdessen wird sie im weiteren Verlauf des Europäischen Semesters Ende November eine finale Einschätzung zur Regelkonformität des zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Haushaltsplans abgeben und dem Rat der Europäischen Union eine Empfehlung hinsichtlich der möglichen Einleitung eines Verfahrens zur Beseitigung eines übermäßigen Defizits (Excessive Deficit Procedure) geben. Sie muss diese Empfehlung aussprechen, wenn ein Mitgliedstaat die Referenzwerte hinsichtlich der Defizit- oder der Schuldenstandsquote überschreitet und keine Ausnahmetatbestände vorliegen. Hierbei muss festgehalten werden, dass eine Überschreitung der Grenzwerte für die öffentliche Verschuldung im Grundsatz lediglich auf Basis realisierter Daten festgestellt werden kann (Europäische Kommission, 2018k). Im Fall der Defizitgrenze kann dies jedoch schon auf Basis von Plänen und Prognosen erfolgen.
(64) Die Ausnahmetatbestände wurden im Rahmen vergangener Reformen des Stabilitäts- und Wachstumspakts stark ausgeweitet und Mitgliedstaaten gewährt, ohne sie einer hinreichenden Ex-post-Überprüfung zu unterziehen. So gewährte die Europäische Kommission Italien seit dem Jahr 2012 insgesamt sechsmal eine Ausnahme für unterschiedliche thematische Bereiche. Ein reformiertes Regelwerk sollte die Anzahl dieser Ausnahmetatbestände reduzieren und lediglich auf Naturkatastrophen sowie starke Rezessionen beschränken, damit von diesen Regeln eine stärkere Bindungswirkung ausgehen kann. Kasten 1
(65) Unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Wirtschafts- und Finanzausschusses sowie einer Anhörung des betroffenen Mitgliedstaates obliegt es im Anschluss dem ECOFIN-Rat, über den Beginn eines formalen Verfahrens zur Beseitigung eines übermäßigen Defizits zu entscheiden. Ist dies der Fall, so spricht der Rat explizite Empfehlungen zur Beseitigung des übermäßigen Defizits aus und gewährt den Mitgliedstaaten eine Frist von bis zu sechs Monaten zu deren Umsetzung. Gelangt die Europäische Kommission zum Ende der Frist zur Einschätzung, dass der betroffene Mitgliedstaat keine wirksamen Maßnahmen ergriffen hat, kann der ECOFIN-Rat Sanktionen nur noch mit einer qualifizierten Mehrheit verhindern.
Dieser Sanktionsmechanismus dürfte jedoch in der Vergangenheit wenig Abschreckungswirkung entfaltet haben, da der Rat entweder von einer Sanktion abgesehen hat oder aber formale Sanktionen in Höhe von 0 % des BIP verhängt wurden. Vor diesem Hintergrund sollte ein reformiertes Regelwerk einen größeren Automatismus vorsehen sowie Nullsanktionen ausschließen. Kasten 1
Kasten 1
Reform des Europäischen Fiskalrahmens
Das europäische fiskalische Regelwerk ist durch verschiedene Reformen in den vergangenen Jahren zunehmend komplex und intransparent geworden (JG 2017 Ziffern 95 ff.). Eine Vielzahl von Ausnahmen mindert zusätzlich dessen Wirksamkeit. Damit ist eine effektive Aufsicht durch die Öffentlichkeit kaum mehr möglich. Eine zunehmend politisch agierende Europäische Kommission schwächt darüber hinaus die Bindungswirkung. Obwohl die Regeln rein formalrechtlich eingehalten wurden, war ihre Wirkung deshalb zu gering, um die Staatsschuldenquoten ausreichend sinken zu lassen oder eine prozyklische Fiskalpolitik zu verhindern.
Der im Jahresgutachten 2017/18 skizzierte Vorschlag einer Reform wird in Feld et al. (2018) detaillierter beschrieben. Im Einklang mit einer Reihe weiterer in die Debatte eingebrachter Reformvorschläge stellt in diesem Vorschlag eine Ausgabenregel die zentrale, jährlich einzuhaltende Regel dar (Andrle et al., 2015; Claeys et al., 2016; Bénassy-Quéré et al., 2018; Darvas et al., 2018; EFB, 2018). Sie soll sicherstellen, dass der Haushalt über den Konjunkturzyklus hinweg nahezu ausgeglichen ist. Grundsätzlich sollten dafür die öffentlichen Primärausgaben abzüglich der zyklischen Ausgaben für Arbeitslosigkeit langsamer wachsen als das mittelfristige nominale Produktionspotenzial. In Mitgliedstaaten mit hohen Staatsschuldenquoten sollen die öffentlichen Ausgaben darüber hinaus vergleichsweise langsam wachsen dürfen.
Im Gegensatz zu anderen Reformvorschlägen wird über ein Ausgleichskonto die strukturelle Defizitregel als mittelfristiges Ziel beibehalten. Da diese Regel ein leichtes Defizit zulässt, schränkt sie den fiskalischen Spielraum weniger stark ein als vergleichbare Vorschläge. Der Vorschlag erkennt ausdrücklich die Probleme im Rahmen der Schätzung in Echtzeit an. Deshalb werden im Ausgleichskonto Revisionen des strukturellen Defizits erfasst. Stellt sich in den Folgejahren heraus, dass die Defizitregel in Echtzeit eine stärkere oder schwächere Beschränkung erfordert hätte, wird der Spielraum eingeschränkt beziehungsweise erweitert. Operationalisiert wird dies über die Ausgabenregel, die jeweils an die vergangenen Einträge in das Ausgleichskonto angepasst wird. So wird sichergestellt, dass insbesondere in guten Zeiten fiskalische Puffer aufgebaut werden. Das Ausgleichskonto würde zudem Messfehler in anderen Bereichen sichtbar machen. So müssen etwa für Ausgabenregeln diskretionäre Änderungen der Einnahmen geschätzt werden, was typischerweise ebenfalls mit Schätzfehlern einhergeht.
Die skizzierte Ausgabenregel ist, im Gegensatz zum bestehenden Regelwerk, weitgehend azyklisch(Christofzik et al., 2018). Die im aktuellen System im Mittelpunkt stehende Beschränkung des strukturellen Defizits, die durch den Fiskalpakt in nationale Gesetzgebung überführt wurde, ist zwar hinsichtlich ihrer theoretischen Eigenschaften ebenfalls azyklisch, bedarf hierzu aber einer exakten Bestimmung der Produktionslücke in Echtzeit. Dies ist jedoch kaum möglich (JG 2016 Kasten 6). Zudem lässt sich in den Messfehlern eine systematische Tendenz in Richtung niedrigerer Werte beobachten, sodass die azyklische Eigenschaft der strukturellen Defizitregel nicht gewährleistet ist (Darvas et al., 2018). Vor diesem Hintergrund hat sie sich als nicht praktikabler Gradmesser für das jährliche fiskalische Handeln erwiesen.
Eine Ausgabenregel, die sich wie von Feld et al. (2018) vorgeschlagen auf einen azyklischen Ausgabenanteil beschränkt, erlaubt hingegen eine uneingeschränkte Wirkung der automatischen Stabilisatoren und ist daher eher geeignet, das Regelwerk insgesamt antizyklisch auszugestalten. Während die Ausgaben im Vergleich zu anderen Größen wie den Einnahmen insgesamt eine relativ geringe Sensitivität hinsichtlich der konjunkturellen Entwicklung aufweisen, entsprechen die zyklisch schwankenden Teilkomponenten im Durchschnitt der EU28 rund 1,0 % des BIP und machen somit nur einen geringen Anteil aus (Christofzik et al., 2018).
Durch die Beibehaltung der strukturellen Defizitregel in der mittleren Frist kann eine weitere ihrer konzeptionellen Stärken bewahrt werden. So könnte ein System, das ausschließlich aus einer Ausgaben- und einer Schuldenregel bestünde, eine prozyklische Fiskalpolitik bei zunehmender Kapazitätsauslastung nicht zuverlässig verhindern und liefe Gefahr, unterspezifiziert zu sein (Christofzik et al., 2018). Zum anderen werden mit dem Festhalten am mittelfristigen strukturellen Defizitziel nationale und supranationale Fiskalregeln stärker vereinheitlicht. Darüber hinaus würde die Einbeziehung dieser im Fiskalpakt festgelegten Regel sicherstellen, dass die vorgesehene Fokussierung, Vereinfachung und Stärkung des bestehenden Fiskalrahmens keine Änderungen an den europäischen oder zwischenstaatlichen Verträgen erfordert.
Einige Reformvorschläge sehen vor, dass die Grenzwerte für das Ausgabenwachstum von unabhängigen Fiskalräten festgelegt werden (Bénassy-Quéré et al., 2018; Darvas et al., 2018). Angesichts der großen Unterschiede in der Ausgestaltung und insbesondere der unzureichend sichergestellten politischen Unabhängigkeit dieser Gremien ist dies aktuell jedoch problematisch (von Trapp et al., 2016). Wenn die Unabhängigkeit der Gremien nicht sichergestellt werden kann, stehen sie bei der Festsetzung der Werte ähnlichen polit-ökonomischen Fehlanreizen gegenüber wie jene Institutionen, die mit der Durchsetzung der Regeln im aktuellen System betraut sind.
Das reformierte Regelwerk würde – abgesehen von Naturkatastrophen und schweren Wirtschaftskrisen – weitgehend ohne Ausnahmen oder Sonderregelungen auskommen, was die Transparenz merklich erhöhen würde. Bei der Durchsetzung der Regeln würde der im Vorschlag angelegte stärkere Automatismus in der Feststellung einer Regelverletzung und der Höhe der Strafe helfen, wenngleich die letzte Entscheidung weiterhin vom Rat der Europäischen Union getroffen werden sollte.
(66) Die auf den Kapitalmärkten zu beobachtenden Reaktionen auf Aussagen von Regierungsvertretern Italiens, etwa in Bezug auf die Regierungsbildung oder auf Haushaltspläne, verdeutlichen, dass die Märkte dem Bekenntnis Italiens zur Mitgliedschaft im Euro-Raum nicht uneingeschränkt trauen. Kasten 10 Seite 240 Dies hatte umfangreiche Diskussionen um die Auswirkungen eines Austritts eines großen Mitgliedstaats aus dem Euro-Raum zur Folge. Die Analysen zum Brexit illustrieren, mit wie viel Unsicherheit die Abschätzungen der wirtschaftlichen Konsequenzen bei einem Austritt aus dem gemeinsamen Binnenmarkt behaftet sind. Ziffern 38 ff. Würde ein Land aus der Währungsunion austreten, wären die Folgen für die Mitgliedstaaten aller Voraussicht nach noch weitreichender.
Eine Abschätzung der wirtschaftlichen Folgen oder der Verlustrisiken für Deutschland sind weitgehend spekulativ. Selbst die Forderungen deutscher Banken oder Direktinvestitionen in den jeweiligen Mitgliedstaaten Abbildung 10 oder die TARGET2-Forderungen der Deutschen Bundesbank Kasten 6 Seite 184 geben kein vollständiges Bild über die Verlustrisiken ab. Noch schwerer dürften indirekte und langfristige wirtschaftliche Folgen wiegen.
Stabilisierung im Euro-Raum
(67) Der deutliche Anstieg der Risikoprämien auf italienische Staatsanleihen zeugt von einer funktionierenden Marktdisziplin. Kasten 10 Die italienische Regierung hat diese Entwicklungen durch ihr eigenes Handeln und ihre konfrontative Rhetorik angestoßen. Eine Stabilisierung Italiens und die Vermeidung von Ansteckungseffekten würden am besten erreicht, wenn Italien auf einen Kurs wachstumsorientierter Strukturreformen und fiskalischer Konsolidierung einschwenken würde (JG 2017 Ziffern 397 ff.). Die schon lange anhaltende, schwache Wirtschaftsentwicklung in Italien (JG 2017 Ziffer 234) ist weit mehr von strukturellen Schwächen geprägt als von einem temporären Nachfrageausfall. Deshalb sind angebotsorientierte Reformen anstelle von fiskalpolitischen Impulsen erforderlich. Besonders problematisch sind rentenpolitische Maßnahmen, welche die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen auf längere Sicht verschlechtern.
(68) Sollte die italienische Regierung ihren Kurs fortsetzen, besteht die Gefahr einer krisenhaften Zuspitzung. Falls ein Mitgliedstaat den Marktzugang zu verlieren droht, dient der ESM als Krisenmechanismus. Auf Antrag stellt er Kredite zu deutlich günstigeren Konditionen als der Markt zur Verfügung, wenn der Mitgliedstaat sich zu einem makroökonomischen Anpassungsprogramm bereiterklärt. Zudem könnte die EZB Staatsanleihen im Rahmen des OMT-Programms kaufen, sofern zuvor ein Antrag beim ESM gestellt wurde. Ein antragstellender Mitgliedstaat müsste dann ebenfalls eine reform- und konsolidierungsorientierte Politik im Rahmen eines Anpassungsprogramms verfolgen. Es wäre hingegen kontraproduktiv, fiskalische Mittel ohne Bedingungen zur Verfügung zu stellen. Dies würde die Marktdisziplin konterkarieren und den Spielraum für eine kontraproduktive Konfliktstrategie der Regierung eines Mitgliedstaats weiter erhöhen.
(69)Vorschläge, die derzeit auf der politischen Agenda zur Reform der Währungsunion stehen, verfolgen das Ziel einer besseren Risikoteilung zwischen den Mitgliedstaaten. Dies betrifft insbesondere die fiskalische Letztsicherung des gemeinsamen Abwicklungsmechanismus, die gemeinsame Einlagensicherung, die Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion sowie eine Fiskalkapazität auf europäischer Ebene. Diese Vorschläge sollten nicht nur im Hinblick auf ihre stabilisierende Wirkung evaluiert werden, sondern sind auch angesichts der aktuellen Entwicklung zu prüfen. Ziffern 406 ff.
(70) Eine Fiskalkapazität auf europäischer Ebene soll Mitgliedstaaten, die eine besonders ungünstige konjunkturelle Entwicklung durchlaufen, temporär mit fiskalischen Transfers unterstützen. Zahlreiche Vorschläge knüpfen direkt an der Entwicklung der Arbeitslosenquote an. Ziffer 431 Tatsächlich kann die gemeinsame Geldpolitik nur begrenzt auf heterogene konjunkturelle Entwicklungen in den Mitgliedstaaten reagieren. Bei der Stabilisierung länderspezifischer Entwicklungen spielt daher die nationale Fiskalpolitik, insbesondere das Wirken automatischer Stabilisatoren, eine wichtige Rolle. Ziffer 426 Bevor eine Fiskalkapazität geschaffen wird, ist daher die Fiskal- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten am Zuge, um die in einer Währungsunion fehlende Wechselkursflexibilität und fehlende nationale Geldpolitik zu kompensieren. Eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur legt eine Reihe von Instrumenten nahe, welche die Mitgliedstaaten eigenverantwortlich einsetzen können. Ziffern 407 ff.
(71) Unstrittig ist, dass die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung die fiskalischen Möglichkeiten eines Mitgliedstaates begrenzt. Die Fiskalregeln der Währungsunion setzen Anreize, diese Tragfähigkeit zu erhalten. Der fiskalpolitische Spielraum eines Mitgliedstaates könnte darüber hinaus nur durch allgemeine Transfers in seinen Haushalt erhöht werden, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Dies ist jedoch im Ordnungsrahmen der Währungsunion zu Recht nicht vorgesehen. Transfers würden eine dauerhafte Umverteilung zwischen den Staaten bedeuten. Die Schaffung einer solchen Transferunion würde einen umfassenden Souveränitätsverzicht der Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Haushaltspolitik voraussetzen. Bundesstaaten wie die Vereinigten Staaten weisen zwar ein deutlich höheres Maß an Risikoteilung über zwischenstaatliche, fiskalische Transfers auf als die Europäische Union. Ziffern 441 ff. Dafür sind jedoch die Verschuldungsmöglichkeiten auf mitgliedstaatlicher Ebene drastisch begrenzt, bis hin zur Erfordernis eines ausgeglichenen Haushalts.
(72) Vor diesem Hintergrund ist die temporäre Natur einer Fiskalkapazität mit Versicherungscharakter von großer Bedeutung. Die vorliegenden Vorschläge zielen darauf ab, keine dauerhafte Umverteilung zwischen den Mitgliedstaaten zu etablieren. Meist verlangen sie jedoch keine explizite Rückzahlung und keine angemessene Verzinsung. Stattdessen setzen sie auf ein ausgleichendes Zufallsprinzip: Die Transfers sollen zufällige, asymmetrische Schocks ausgleichen. Jeder Staat kann von solchen Schocks zu unterschiedlichen Zeiten getroffen werden, sodass sich die Zahlungen über einen längeren Zeitraum wieder ausgleichen. Schocks sind exogene Ereignisse, die nicht vom Handeln der Regierungen ausgelöst werden.
Solche Schocks sind jedoch nur schwer zu identifizieren, weshalb Vorschläge, die auf die Arbeitslosenquote als Auslöser für den Transferbezug abstellen, problematisch sind. Die Ursachen der Änderung der Arbeitslosenquote müssen identifiziert werden. Dabei muss die Arbeitslosigkeit in ihre strukturellen und konjunkturellen Komponenten aufgeteilt werden. Konkrete Vorschläge für eine Fiskalkapazität müssen daher im Hinblick darauf evaluiert werden, ob es dadurch längerfristig zu substanziellen Nettotransfers von einem Staat an einen anderen kommt.
(73) Es fehlt bisher an entsprechenden Analysen. Eine Ausnahme ist die Analyse des Internationalen Währungsfonds (IWF). Sie legt nahe, dass solch eine Kapazität längerfristig zu großen Nettotransfers an einzelne Staaten geführt hätte, wenn diese Kapazität in den Jahren von 1990 bis 2017 zur Verfügung gestanden hätte (Arnold et al., 2018). Eine Analyse des Sachverständigenrates zeigt, dass selbst bei Berücksichtigung eines längeren Zeitraums kein automatischer Ausgleich stattgefunden hätte. Ziffern 433 ff. Eine Fiskalkapazität mit einer derartigen Wirkung einzurichten, würde bedeuten, die Transferunion durch die Hintertür einzuführen. Kann sich die Fiskalkapazität zudem verschulden, könnte dies als eine Einführung eines Eurobonds interpretiert werden.
(74) Zudem findet derzeit eine Diskussion um eine Weiterentwicklung des ESM zu einem Europäischen Währungsfonds (EWF) statt. Hinter diesem Begriff verbergen sich allerdings recht unterschiedliche Vorstellungen. Er ist ohnehin irreführend, da selbst ein reformierter ESM im Gegensatz zum IWF nicht für die Stabilität des Geld- und Zahlungssystems zuständig wäre. Aus Sicht des Sachverständigenrates stellt der ESM ein wesentliches Element der Architektur des Euro-Raums dar, das es sinnvoll weiterzuentwickeln gilt: Der reformierte ESM sollte eine geordnete Umschuldung von Staatsschulden ermöglichen, die fiskalische Letztsicherung für den gemeinsamen Abwicklungsfonds (SRF) bereitstellen und ein explizites Mandat zur Krisenprävention erhalten, etwa in Form zusätzlicher Aufgaben bei der Überwachung der nationalen Wirtschaftspolitik und von Stabilitätsrisiken (JG 2017 Ziffern 124 ff.). Die Erklärung von Meseberg (Bundesregierung, 2018b) greift diese Punkte auf und regt ein Rahmenwerk für die Deckung des Liquiditätsbedarfs im Abwicklungsfall Ziffern 507 ff. und die Weiterentwicklung bereits bestehender Vorsorgeinstrumente (ESM-Kreditlinie) an.
(75) Die konkrete Ausgestaltung einer solchen Kreditlinie ist noch offen. Sie soll jedoch mit Ex-ante-Zugangskriterien ausgestattet sein, lediglich „wirtschaftlich und finanzpolitisch soliden Mitgliedstaaten“ gewährt werden und dafür im Gegenzug kein vollständiges Programm erforderlich machen. Der ESM hat bereits ähnlich wie der IWF eine vorsorglich bedingte Kreditlinie (Precautionary Conditioned Credit Line, PCCL) zur Verfügung, die weiterentwickelt werden würde. Das Ziel bestünde darin, Mitgliedstaaten diese Kredite bei drohenden Liquiditätsengpässen in Aussicht zu stellen, dadurch Erwartungen an den Finanzmärkten zu stabilisieren und so eine Krise zu vermeiden (Regling, 2018).
Es stellt sich jedoch die Frage, für welche Fälle diese Kreditlinie benötigt würde. Verliert ein Mitgliedstaat den Zugang zu den Kapitalmärkten, gibt es bereits die Möglichkeit, Geld beim ESM aufzunehmen. Solange der Mitgliedstaat den Zugang noch hat und die voraussichtlich strengen Kriterien für eine reformierte PCCL erfüllt, würde eine Anfrage nach einer PCCL wahrscheinlich ein negatives Signal an die Finanzmärkte aussenden und daher eher nicht stattfinden.
(76) Die Einrichtung einer zusätzlichen Fiskalkapazität, wie sie von verschiedenen Institutionen und als Teil des Haushalts des Euro-Raums in der Erklärung von Meseberg (2018b) angeregt wird, könnte ebenfalls die Umgehung eines ESM-Programms ermöglichen. Die Transfers wären nicht an Konditionalität wie bei einem ESM-Programm gebunden. Deshalb besteht die Gefahr, dass Mitgliedstaaten die Rückkehr zu einer nachhaltigen Fiskalpolitik längere Zeit aufschieben. Hinzu kommen politökonomische Fehlanreize. Ziffern 450 f. Transfers würden es dem Mitgliedstaat möglicherweise erlauben, eine Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik zu verfolgen, die zwar politisch opportun erscheint, aber zu mehr Arbeitslosigkeit führt. Bevor Vorschläge umgesetzt werden, müsste der Nachweis erbracht werden, dass Bedenken hinsichtlich eines Moral Hazard vonseiten der Empfängerregierungen ausgeräumt werden können. So könnten möglicherweise über eine gemeinschaftliche Arbeitslosenversicherung Kosten erhöhter Arbeitslosigkeit und ausgebliebener nationaler Strukturreformen auf die europäische Ebene verschoben werden. Ziffer 451
Selbst bei einem Rückversicherungssystem, wie von der Bundesregierung etwa im Rahmen der Erklärung von Meseberg angedacht, bliebe das Risiko einer Fehlsteuerung bestehen, da ein verkrusteter Arbeitsmarkt zu einer höheren Persistenz der nachteiligen Wirkungen konjunktureller Schocks tendiert. Dadurch könnte es über den Selbstbehalt hinaus zu Transfers aus gemeinschaftlichen Mitteln kommen (JG 2017 Ziffer 106). Die Einführung eines solchen Systems setzt deshalb die Harmonisierung der nationalen Arbeitsmarktpolitiken und -institutionen sowie einen gewissen Souveränitätsverzicht der Mitgliedstaaten voraus. Dies ist zumindest derzeit nicht mit den heterogenen nationalen Präferenzen und dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar.
(77) Den Kredit- und Faktormärkten, insbesondere den Kapital- und Arbeitsmärkten, kommt hingegen eine wichtige Stabilisierungsrolle bei der Verarbeitung asymmetrischer Schocks zu. Ziffer 407 Eine mögliche Stabilisierungswirkung wird derzeit allerdings durch institutionelle Hemmnisse und Regulierungen behindert. Um die Stabilisierungswirkung auf Kredit- und Faktormärkten zu verbessern, wäre auf europäischer Ebene vor allem ein Voranschreiten bei der Banken- und Kapitalmarktunion erforderlich. Ziffern 475 f.
Die Stabilisierung über den Arbeitsmarkt erfolgt vor allem über Löhne, Geldtransfers und innereuropäische Arbeitsmobilität. Während Arbeitsmigration Angebotsengpässe auf dem Arbeitsmarkt ausgleichen kann und Nachfrage vor Ort schafft, stabilisieren Heimatüberweisungen die Binnennachfrage in anderen EU-Mitgliedstaaten. Ziffer 407 Bei vollständiger und tatsächlicher Arbeitnehmerfreizügigkeit im Sinne eines optimalen Währungsraums ist der Euro-Raum allerdings noch nicht angelangt (van Rompuy, 2012). Die Verschärfung der Entsenderichtlinie, wie sie im vergangenen Jahr beschlossen wurden, ist eher ein Rückschritt, der sich gegen die Dienstleistungsfreiheit im gemeinsamen Binnenmarkt richtet (JG 2017 Ziffer 138).
Europäische Banken- und Kapitalmarktunion vorantreiben
(78) Kredit- und Kapitalmärkte können wesentlich zur Risikoteilung in der Währungsunion beitragen. Ein wichtiges längerfristiges Ziel ist daher die Beseitigung von Hürden für die Finanzintegration in Europa. Dies betrifft die Bank- und die Kapitalmarktfinanzierung. Der Europäischen Bankenunion und der Kapitalmarktunion kommt hierbei eine entscheidende Rolle zu. Allerdings sind die Fortschritte bislang verhalten. Ziffern 471 FF. Durch die aktuellen Entwicklungen in Italien haben die Integrationsbestrebungen einen Dämpfer erhalten. Stellt ein Staat die Mitgliedschaft im Euro-Raum explizit oder implizit infrage, sinkt die Bereitschaft der anderen Mitgliedstaaten, sich auf weitere Integrationsschritte einzulassen. Dabei wären weitere Schritte sinnvoll, um die Währungsunion dauerhaft zu stabilisieren.
(79) Das wichtigste Ziel der im Jahr 2014 begründeten Europäischen Bankenunion ist es, den Risikoverbund zwischen Banken und Staaten zu lockern (Europäische Kommission, 2012). Mit der gemeinsamen Bankenaufsicht (Single Supervisory Mechanism, SSM) und dem gemeinsamen Abwicklungsrahmen (Single Resolution Mechanism, SRM) wurden bereits wesentliche Fortschritte erzielt. Allerdings besteht der Staaten-Banken-Nexus fort. So halten viele Banken nach wie vor umfangreiche Forderungen gegenüber ihren Sitzstaaten, was durch die regulatorische Privilegierung begünstigt wird. Im Hinblick auf die dritte Säule der Bankenunion, die gemeinsame Einlagensicherung (European Deposit Insurance Scheme, EDIS), konnte bislang keine Einigung erzielt werden.
(80) Die Aufhebung der regulatorischen Privilegierung von Forderungen gegenüber Staaten ist wichtig, um Ansteckungseffekte von einem Mitgliedstaat auf die dort ansässigen Banken zu begrenzen. Hierfür wären risikogemäße Großkreditgrenzen mit risikoadäquater Eigenkapitalunterlegung sinnvoll, wie sie vom Sachverständigenrat bereits im Jahr 2015 vorgeschlagen wurden (JG 2015 Ziffern 57 ff.). Alternativ kämen Konzentrationszuschläge infrage, sofern diese die Bonität der staatlichen Schuldner berücksichtigen. Um Wettbewerbseffekte im internationalen Umfeld abzumildern, könnten wohldiversifizierte Portfolios bis zu einem bestimmten Umfang von der Eigenkapitalunterlegung freigestellt werden. Allerdings könnten Ansteckungsrisiken zunehmen, wenn der Anreiz gesetzt wird, dass Banken verstärkt ausländische Staatsanleihen halten. Ziffern 488 Ff.
(81) Beim Euro-Gipfel im Juni 2018 haben sich die Staats- und Regierungschefs auf die Einführung einer fiskalischen Letztsicherung (Backstop) für den gemeinsamen Abwicklungsfonds (SRF) verständigt (Rat der Europäischen Union, 2018). Demnach soll der ESM eine Kreditlinie an den SRF bereitstellen. Details zur Ausgestaltung sind für Dezember 2018 angekündigt.
Ein solcher Backstop ist grundsätzlich sinnvoll, und seine Governance sollte so ausgestaltet werden, dass er ohne große Verzögerungen aktiviert werden kann. Angesichts der großen Ermessensspielräume für die Nutzung des SRF muss allerdings sichergestellt werden, dass er keine Bankenrettungen durch die Hintertür ermöglicht. Zudem sollte ein Abwicklungsverfahren nicht allein die Solvenz, sondern ebenfalls die Liquidität des betroffenen Instituts sicherstellen. Die Schaffung einer Liquiditätsfazilität für Banken in Abwicklung, im Rahmen derer die EZB die Möglichkeit hätte, Banken Zugang zu Liquidität zu gewähren, könnte sinnvoll sein. Daraus entstehende Ausfallrisiken könnten durch eine Garantie des SRF abgesichert werden. Ebenso wichtig ist allerdings ein rechtzeitiges Einschreiten von Aufsicht und Abwicklungsbehörde, damit Abwicklungen nicht unnötig verzögert werden. Ziffern 502 ff.
(82) Eine gemeinsame europäische Einlagensicherung könnte sinnvoll sein, sofern sie anreizkompatibel ausgestaltet ist, etwa in Form eines Rückversicherungssystems mit banken- und länderspezifischen Prämien. Eine Einführung setzt jedoch andere Reformen voraus, welche die Risikoreduktion im Euro-Raum fortsetzen, etwa eine angemessene Risikovorsorge für bestehende und zukünftige notleidende Kredite und ein rascher Aufbau der vorgesehenen Puffer an bail-in-fähigen Schuldtiteln. Vor allem ist die Aufhebung der regulatorischen Privilegierung von Forderungen gegenüber Staaten eine zwingende Voraussetzung. Ziffern 511 ff.
(83) Neben der Vertiefung der Bankenunion sollten Integrationshürden abgebaut werden, die grenzüberschreitende Fusionen unnötig erschweren, insbesondere über eine stärkere Vereinheitlichung von Regulierung und Aufsicht durch eine Verringerung nationaler Wahlrechte. Gerade durch Zweigstellen und Tochtergesellschaften ausländischer Banken wird die Finanzintegration gestärkt, ohne dass in Krisenzeiten mit einem abrupten Rückgang gerechnet werden muss. Ziffer 535
(84) Die Kapitalmarktunion dient der Entwicklung und Integration der europäischen Kapitalmärkte, um die starke Abhängigkeit der Unternehmen von Banken zu reduzieren. Die Stärkung resilienter Finanzierungsformen, vor allem in Form von Eigenkapital, sollte im Vordergrund stehen. Als Binnenmarktprojekt ist die Kapitalmarktunion ein langfristiges Projekt, das viele kleinteilige und langwierige Gesetzesinitiativen umfasst. Ziffer 557 Angesichts ihres großen Potenzials sollte die Kapitalmarktunion gleichwohl mit Nachdruck vorangetrieben werden.
(85) Wesentliche Elemente sind eine gewisse Harmonisierung des Insolvenzrechts und die steuerliche Gleichbehandlung von Fremd- und Eigenkapital. Ziffern 550, 553 Investmentfonds dürfte eine wichtige Rolle bei der fortschreitenden Finanzintegration zukommen, ihre rasche Entwicklung muss allerdings regulatorisch begleitet werden.
Zudem sollten die Kompetenzen der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (European Securities and Markets Authority, ESMA) ausgeweitet werden, um eine einheitliche Implementierung der Regulierung zu gewährleisten und regulatorische Arbitrage einzudämmen. Allerdings könnte es in Teilbereichen sinnvoll sein, die nationalen Kompetenzen aufrechtzuerhalten. Gerade angesichts des Brexit sollte die EU eine Fragmentierung des Kapitalmarkts aufgrund der möglichen Bildung mehrerer Finanzzentren vermeiden. Schließlich sollten Maßnahmen zur Stärkung des Kapitalangebots ergriffen werden, beispielsweise durch eine Stärkung der privaten und betrieblichen Altersvorsorge mit Hilfe eines europaweiten Produkts für die private Altersvorsorge (Pan-European Personal Pension Product, PEPP)und eine Verbesserung der finanziellen Bildung. Ziffern 552 ff.
- Normalisierung der Geldpolitik im Euro-Raum mit symmetrischer Reaktion auf makroökonomische Entwicklungen, Bilanzreduktion und Kommunikation der Normalisierungsstrategie
- Rückführung der Schuldenstandsquoten zur Schaffung fiskalischen Spielraums, unterstützt durch reformierten Fiskalrahmen; Vermeidung langfristiger Transfers ohne Souveränitätsverzicht
- Weiterentwicklung der Banken- und Kapitalmarktunion, insbesondere Aufhebung der regulatorischen Privilegierung von Forderungen gegenüber Staaten und Abbau von Integrationshürden
IV. DEMOGRAFISCHER WANDEL: DRINGENDER HANDLUNGSBEDARF
(86) Auf der nationalen Ebene wird der demografische Wandel Anpassungen in fast allen Bereichen der Wirtschaftspolitik notwendig machen. Das Zusammenspiel zwischen den seit den 1970er-Jahren stark gesunkenen Geburtenraten und einer steigenden Lebenserwartung hat in Deutschland zu einer Alterung der Bevölkerung geführt. Daran ändern die zuletzt steigende Anzahl der Geburten und die hohe Nettozuwanderung wenig. Noch befindet sich Deutschland am Ende einer rund ein Jahrzehnt währenden demografischen Atempause. Infolge der niedrigeren Geburtenraten im und nach dem Zweiten Weltkrieg beläuft sich die Anzahl der 65- bis 69-Jährigen in den Jahren 2009 bis 2020 auf jeweils unter 5 Millionen Personen und liegt damit deutlich niedriger als in den Jahren davor und danach. Abbildung 11 oben
Nun steht aber der Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge (1955 bis 1969) ins Rentenalter bevor. Die Anzahl der 65- bis 69-Jährigen dürfte bis zum Jahr 2031 auf einen Rekordwert von 6,4 Millionen Personen ansteigen, gegenüber dem im Jahr 2013 erreichten Tiefpunkt von 3,9 Millionen Personen. Das Verhältnis der Anzahl von Personen im Alter von über 64 Jahren zur Anzahl von Personen im Erwerbstätigenalter zwischen 20 und 64 Jahren dürfte von 35 % im Jahr 2015 auf knapp 50 % im Jahr 2030 und rund 60 % im Jahr 2060 ansteigen. Abbildung 11 oben
(87) Daher ist zu erwarten, dass die Erwerbsbevölkerung in den kommenden Jahren deutlich schrumpfen wird. Eine Erhöhung des Arbeitskräftepotenzials kann dieser Entwicklung entgegenwirken. Zudem gerät durch den demografischen Wandel die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme erheblich unter Druck. Die derzeit erzielten Überschüsse in den meisten Zweigen der Sozialversicherung sind von flüchtiger Natur, es bedarf einer Stärkung der Demografiefestigkeit des Sozialversicherungssystems. Die aktuelle demografische Atempause und der wirtschaftliche Aufschwung bieten gute Voraussetzungen für Reformen, die Wachstum und ökonomische Nachhaltigkeit stärken.
1. Erwerbsmigration gegen Fachkräfteengpässe
(88) Schon heute sinkt die erwerbsfähige Bevölkerung im Alter von 20 bis 64 Jahren demografiebedingt um rund 300 000 Personen pro Jahr (Fuchs et al., 2018). Allerdings sorgen die hohe Nettozuwanderung und eine steigende Erwerbsbeteiligung bislang dafür, dass die Anzahl der Erwerbstätigen und das Arbeitsvolumen weiterhin steigen. Trotz der beträchtlichen Zunahme der Beschäftigung um knapp 590 000 Personen in diesem Jahr suchen viele Unternehmen derzeit nach qualifiziertem Personal. Die Anzahl der gemeldeten Stellen hat mit über 800 000 Stellen im September 2018 einen neuen Höchststand erreicht, genauso wie die Vakanzzeit, welche die Zeitspanne vom gewünschten Besetzungstermin bis zur Abmeldung oder Besetzung der Arbeitsstelle misst. Diese hat sich im Zeitraum von Oktober 2017 bis September 2018 gegenüber dem vergleichbaren Zeitraum im Jahr 2010 auf knapp 110 Tage in etwa verdoppelt. Zeitgleich hat sich die Arbeitslosen-Stellen-Relation deutlich verringert. Kamen auf eine offene Arbeitsstelle im September 2010 noch zehn Arbeitslose, waren es im September 2018 nur noch drei Arbeitslose. Abbildung 11 unten
Arbeitskräftepotenzial nutzen und erhöhen
(89) Ein erster Ansatz, um die zunehmenden Fachkräfteengpässe zu reduzieren, besteht in Maßnahmen, die das inländische Arbeitskräftepotenzial stärker nutzen. So sollten die Rahmenbedingungen derart gestaltet werden, dass Teilzeitkräfte ihre Arbeitszeiten einfacher ausweiten können und eine Rückkehr auf den Arbeitsmarkt erleichtert wird, beispielsweise im Anschluss an Kindererziehungszeiten. Eine Flexibilisierung der Arbeitsorganisation und der weitere Ausbau der Ganztagsbetreuung für Kinder bieten hierfür wichtige Ansatzpunkte.
Zudem gilt ab 1. Januar 2019 die Brückenteilzeit, durch die Beschäftigte nicht nur das Recht haben, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, sondern diese nach einer bestimmten Zeit auf Vollzeit wieder aufzustocken. Dieser Rechtsanspruch für Teilzeitbeschäftigte auf eine Rückkehr in Vollzeitarbeit gilt für alle Beschäftigten in Unternehmen mit mehr als 45 Arbeitnehmern (BMAS, 2018a). Ein solcher Anspruch könnte zwar grundsätzlich den Wiedereinstieg in die Vollzeitbeschäftigung hinauszögern (JG 2017 Ziffer 777). Da er jedoch auf ein bis fünf Jahre zeitlich befristet ist, dürfte dieser Anreiz in diesem Fall begrenzt sein.
(90) Damit Arbeitnehmer ihre individuellen Arbeitsanforderungen und ihre persönliche Lebensgestaltung besser in eine für sie richtige Balance bringen können, sollte das Arbeitszeitgesetz modernisiert werden. Viele Beschäftigte agieren häufig in einer gesetzlichen Grauzone, wenn sie sich für eine flexible Organisation ihrer Arbeitszeit entscheiden und dadurch etwa die gesetzliche Mindestruhezeit von elf Stunden nicht einhalten. Es kann daher sinnvoll sein, diese zu verkürzen (JG 2017 Ziffer 78), vorausgesetzt dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer dies gleichermaßen wünschen. Zudem könnte eine Anpassung von einer Tages- auf eine Wochenhöchstzeit von 48 Stunden (JG 2017 Ziffer 78), so wie die EU-Arbeitszeitrichtlinie sie vorsieht, den Beschäftigten dabei helfen, ihre Arbeitszeit flexibler auf die Wochentage zu verteilen.
Bei diesen Neuregelungen darf es nicht dazu kommen, dass die Arbeitszeit auf verdeckte Weise ausgeweitet wird. Um derartigen Missbrauch zu verhindern, sind insbesondere entsprechende Verpflichtungen zur Dokumentation der Arbeitszeit erforderlich. Nichtsdestotrotz kann die Flexibilisierung manchen Personengruppen helfen, Beruf und Familie besser zu vereinbaren und damit die Arbeitszeiten auszuweiten, und dem Fachkräfteengpass durch eine anpassungsfähige Organisation der Arbeit entgegenwirken.
(91) Ein zweiter Ansatz sieht Maßnahmen vor, die das inländische Arbeitskräftepotenzial erhöhen. Ein Element dieses Ansatzes ist die weitere Steigerung der Erwerbsbeteiligung. Bereits in den vergangenen Jahren hat sich die Partizipation von Frauen und älteren Personen deutlich erhöht. Dadurch stieg die Erwerbstätigenquote von älteren Beschäftigten zwischen 55 und 65 Jahren im Zeitraum von 2005 bis 2017 von 45 % auf 70 %, die von Frauen in demselben Zeitraum von 63 % auf 75 %. Im Vergleich zu Männern sind weiterhin Ausweitungspotenziale der Erwerbsbeteiligung möglich, wenngleich diese allmählich kleiner werden.
Eine weitere Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit könnte beispielsweise durch finanz- und steuerpolitische Maßnahmen im Einklang mit veränderten institutionellen Rahmenbedingungen erreicht werden (JG 2017 Ziffern 33 ff.). Statt mit Politikmaßnahmen wie der Rente mit 63 Jahren für langjährig Versicherte ältere Beschäftigte frühzeitig dem Arbeitskräftepotenzial zu entziehen, sollten Anstrengungen unternommen werden, einen flexibleren Renteneintritt als bislang zu ermöglichen. Ziffer 109
(92) Ungenutztes Arbeitskräftepotenzial findet sich ebenso unter den derzeit rund 2,3 Millionen Arbeitslosen. Im September 2018 waren noch knapp 800 000 Personen länger als ein Jahr arbeitslos gemeldet und galten daher als langzeitarbeitslos (BA, 2018a). Hier dürften unter anderem Maßnahmen zielführend sein, die eine passgenaue Beratung und intensive Betreuung für Langzeitarbeitslose vorsehen (Hohmeyer et al., 2015). Insbesondere sollten Anstrengungen unternommen werden, durch Präventionsmaßnahmen das Entstehen von Langzeitarbeitslosigkeit von vornherein zu verhindern, etwa durch gezielte Nachqualifizierungen für erwachsene Personen ohne beruflichen Abschluss.
(93) Eine Teilnahme an einem staatlich geförderten sozialen Arbeitsmarkt sollte nur nachweislich arbeitsmarktfernen Langzeitarbeitslosen zugutekommen. Lietzmann et al. (2018) schlagen als Kriterien für eine solche Zielgruppe einen Leistungsbezug von mindestens sieben Jahren und eine in dieser Zeit geringe Erwerbsbeteiligung vor. Einem solidarischen Grundeinkommen, wie es ab dem Jahr 2019 in Berlin erprobt wird, das einem Teil der Langzeitarbeitslosen vollwertige Arbeitsplätze staatlich finanziert, steht der Sachverständigenrat jedenfalls skeptisch gegenüber. Es erinnert an die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der 1990er- und 2000er-Jahre. Für diese stellten eine Reihe von Studien insgesamt fest, dass die Erfolgswahrscheinlichkeiten hinsichtlich der Eingliederung in den Arbeitsmarkt für die Teilnehmer im Durchschnitt unter denen vergleichbarer Nichtteilnehmer lagen (Kraus et al., 2000; Caliendo et al., 2003, 2004; Hujer et al., 2004).
(94) Um das inländische Arbeitskräftepotenzial bestmöglich auszuschöpfen, sollten die Hürden für den Einstieg in den Arbeitsmarkt möglichst niedrig gehalten werden. In den vergangenen Jahren ist jedoch eher eine gegenteilige Bewegung zu beobachten gewesen. So wurde beispielsweise durch die Reform der Arbeitnehmerüberlassung im Jahr 2017 beschlossen, Leiharbeiter spätestens nach neun Monaten wie eine Stammarbeitskraft zu entlohnen und ihre maximale Einsatzdauer bei einem Leihunternehmen auf 18 Monate zu begrenzen.
Darüber hinaus sieht der Koalitionsvertrag eine deutliche Einschränkung von Befristungsmöglichkeiten vor. So sollen zum einen „Kettenverträge“ abgeschafft werden und eine Gesamtdauer der Befristungen bei demselben Arbeitgeber maximal fünf Jahre betragen. Dies dürfte insbesondere im Öffentlichen Dienst Friktionen hervorrufen, der im Jahr 2014 mit einem Anteil von rund 11 % deutlich höhere Befristungsquoten von Arbeitnehmern aufwies als der Privatsektor mit gut 7 % (Hohendanner et al., 2015). Ob der Druck auf die Arbeitgeber dazu führt, dass Beschäftigte mit langjährigen Befristungsketten übernommen werden, ist fraglich, insbesondere im öffentlichen Bereich. Damit könnten sich in der Summe die betrieblichen Beschäftigungsdauern eher verkürzen.
Zum anderen sieht der Koalitionsvertrag vor, die maximale Dauer sachgrundloser Befristungen von 24 auf 18 Monate zu verkürzen und bei Arbeitgebern mit mehr als 75 Beschäftigten den Anteil der Belegschaft mit sachgrundloser Befristung auf maximal 2,5 % zu begrenzen. Von dieser Quotenregelung wären laut Hohendanner (2018) mindestens 360 000 sachgrundlose Befristungen betroffen, die abgebaut oder umgewandelt werden müssten. Die geplante Regelung könnte dazu führen, dass sich Arbeitgeber mit Einstellungen zurückhalten. Zudem dürfte der Anteil an Befristungen mit Sachgrund in Zukunft ebenso an Bedeutung gewinnen wie alternative Instrumente der Personalanpassung, wie beispielsweise Zeit- und Werkverträge.
(95) Wenngleich sich durch die beschlossenen und geplanten Maßnahmen in der aktuell sehr guten konjunkturellen Lage wenig spürbare Effekte zeigen dürften, könnten sie in Zeiten eines Abschwungs negative Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt entfalten. Die dann benötigte Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt dürfte durch diese Maßnahmen beschränkt sein.
Zuwanderung von Fachkräften weiter vorantreiben
(96) Selbst eine erhebliche Steigerung des inländischen Arbeitskräftepotenzials wird langfristig nicht genügen, um den Rückgang der Erwerbsbevölkerung aufzuhalten. Eine dauerhaft hohe Zuwanderung dürfte daher für die Sicherung des Wohlstands in Deutschland unverzichtbar sein. Für diese Erkenntnis sollte vonseiten der Politik geworben und die notwendige Strategie klar kommuniziert werden. Im Inland gilt es insbesondere, die Akzeptanz von Zuwanderung zu stärken und eine Integrationskultur zu etablieren. Dies schließt ein, dass Zuwanderer stärker verpflichtet werden, Sprach- und Integrationskurse zu absolvieren. Dafür gilt es, das entsprechende Angebot zu schaffen.
(97) Die Zuwanderung nimmt auf dem Arbeitsmarkt eine immer wichtigere Rolle ein. Zwischen den Jahren 2010 und 2017 hat sich die Anzahl der ausländischen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 85 % auf rund 3,5 Millionen Personen erhöht. Ausländische Beschäftigte tragen mittlerweile sogar mehr als die Hälfte des Zuwachses der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung bei. Ziffer 285 Dabei stieg die ausländische Beschäftigung über alle Wirtschaftszweige hinweg, jedoch am stärksten im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung und im Baugewerbe. Abbildung 12 oben
Der größte Teil der Zugewanderten stammt aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten, für welche die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt. Sollten sich allerdings die wirtschaftlichen Bedingungen in diesen Staaten verbessern, könnte sich die Zuwanderung aus diesen Ländern reduzieren, und Zugewanderte könnten vermehrt in ihre Heimat zurückkehren. In den vergangenen zwei Jahren war die Zuwanderung aus den EU-Mitgliedstaaten bereits rückläufig.
(98) Umso wichtiger dürfte es in Zukunft sein, die Erwerbsmigration aus Nicht-EU-Mitgliedstaaten zu erhöhen. Deutschland verfügt bereits über ein vergleichsweise liberales Regelwerk für die Erwerbsmigration für akademische Fachkräfte aus Nicht-EU-Mitgliedstaaten (SVR Migration, 2015). Für beruflich qualifizierte Fachkräfte ohne akademischen Abschluss bestehen jedoch Zuwanderungshürden. Der Sachverständigenrat begrüßt daher die politischen Bestrebungen, diese durch das geplante Fachkräftezuwanderungsgesetz zu lockern.
Statt wie bisher Fachkräften aus Drittstaaten nur dann Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu gewähren, wenn sie einen Arbeitsplatz in einem ausgewiesenen Mangelberuf vorweisen können, soll demnach bei entsprechendem Qualifikations- und Sprachnachweis eine zeitlich befristete Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitssuche erteilt werden können. Auf eine Vorrangprüfung, bei der bislang geprüft werden muss, ob für eine Arbeitsstelle ebenso ein inländischer Bewerber zur Verfügung steht, soll ebenso verzichtet werden wie auf die bislang bestehende Beschränkung auf Engpassberufe.
(99) Die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen dürfte jedoch gerade vor dem Hintergrund des deutschen (Aus-)Bildungssystems weiterhin eine hohe Hürde für die Zuwanderung darstellen. Denkbar wäre es, im Fall einer verbindlichen Arbeitsplatzzusage an Personen mit abgeschlossener Ausbildung vereinfachte Kompetenztests durchzuführen.
(100) Die Asylzuwanderung ist weiterhin strikt von der Erwerbsmigration zu trennen. Asylzuwanderung geschieht aus humanitären Gründen und sollte daher nicht durch Kriterien der potenziellen Erwerbsfähigkeit beeinflusst werden. Für die Erwerbsmigration sind diese Kriterien dagegen entscheidend. Im Juni 2018 gab es laut Deutscher Bundestag (2018) rund 60 000 ausreisepflichtige Personen ohne Duldung, die eigentlich abgeschoben werden müssten. Geduldeten Personen, deren Anzahl sich im Juni 2018 auf rund 170 000 Personen summierte, sollte hingegen der Zugang zum Arbeits- und Berufsausbildungsmarkt nicht verwehrt bleiben. Für diese bestehen bereits heute im Aufenthaltsgesetz legale Möglichkeiten, bei erfolgreicher Integration eine befristete Aufenthaltserlaubnis zu erhalten.
(101) Die Integration der anerkannten Asylbewerber in den Arbeitsmarkt geht schneller voran als in früheren Jahrzehnten und somit bislang etwas zügiger als erwartet (JG 2016 Kasten 24; JG 2017 Ziffern 744 ff.; Gemeinschaftsdiagnose, 2018). Ging der Sachverständigenrat in seiner Konjunkturprognose im März 2016 noch von gut 110 000 Personen aus den acht größten nichteuropäischen Asylherkunftsländern Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien aus, die zwischen den Jahren 2015 und 2017 erwerbstätig würden, lag die tatsächliche Anzahl bei rund 140 000 Personen. Im Juli 2018 waren aus diesen Staaten rund 180 000 Personen mehr sozialversicherungspflichtig beschäftigt als im Januar 2015. Abbildung 12 unten
Die Beschäftigungsquote stieg im Juli 2018 gegenüber dem Vorjahresmonat von 15 % auf 22 %. Damit lag sie jedoch weiterhin deutlich unter derjenigen der Ausländer mit 43 % (BA, 2018b). Fast jeder sechste sozialversicherungspflichtig Beschäftigte aus diesen Staaten ist in der Zeitarbeit tätig (BA, 2018c). In der Vergangenheit hat dieser Bereich für die meisten Ausländergruppen als ein gutes Sprungbrett in eine andere Beschäftigung gedient (Jahn, 2016).
(102) Die Unterbeschäftigung hat unter den Personen aus den acht größten nichteuropäischen Asylherkunftsländern ihren Höhepunkt bereits überschritten. Abbildung 12 unten Der Übergang von Personen aus diesen Staaten, die integrations- und berufsspezifische Sprachkurse absolviert haben, in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung scheint vielfach zu gelingen. Die Anzahl der Arbeitslosen aus dieser Personengruppe liegt bereits seit Anfang des Jahres 2017 gegenüber dem Januar 2015 auf einem relativ konstanten Niveau von rund 130 000 Personen. Abbildung 12 unten Wenngleich die großen Integrationsanstrengungen der vergangenen Jahre Früchte zu tragen scheinen, sollte hier nicht nachgelassen werden.
- Bessere Möglichkeiten zur Ausweitung der Arbeitszeiten bei Teilzeitkräften und Flexibilisierung der Arbeitsorganisation und -zeiten sowie Ausbau der Ganztagsbetreuung
- Erhöhung der Erwerbsbeteiligung durch niedrige Arbeitsmarkthürden, flexiblen Renteneintritt und finanz- und steuerpolitische Maßnahmen zur Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit
- Steigerung der beruflich qualifizierten Zuwanderung, insbesondere aus Nicht-EU-Mitgliedstaaten, durch ein Fachkräftezuwanderungsgesetz
2. Demografiefeste Alterssicherung vorsehen
(103) Die im vergangenen Jahrzehnt im Vorgriff auf die rund zwei Jahrzehnte später anstehende Alterung eingeführte Rente mit 67 war eine gelungene politische Antwort auf den demografischen Wandel. Es war klug, den Anstieg des gesetzlichen Renteneintrittsalters mit diesem erheblichen Vorlauf zu beschließen. Denn erstens musste die gesellschaftliche Diskussion aus diesem Abstand heraus nicht mit der hohen Emotionalität geführt werden, die typischerweise mit abrupten größeren Veränderungen einhergeht. Zweitens ließ sich die Erhöhung des Renteneintrittsalters in kleinen Schritten über die Zeit bis zum Jahr 2030 strecken, sodass eine solche abrupte größere Änderung vermieden werden konnte.
Drittens ist es im Verbund mit der Einführung einer zweiten und dritten Säule der Alterssicherung gelungen, bis zum Jahr 2030 das bestehende System demografiefest zu gestalten, ohne seine Grundstruktur infrage zu stellen (JG 2016 Ziffern 590 ff.). Es war richtig, die Attraktivität der kapitalgedeckten Säulen zu steigern, beispielsweise durch das Betriebsrentenstärkungsgesetz des Jahres 2017.
(104) Aktuell steht die Politik vor einem vergleichbaren Problem, denn mit dem Jahr 2030 wird der demografische Wandel nicht abgeschlossen sein. Die Lebenserwartung wird aller Voraussicht nach weiter steigen. Bei einem fixierten Renteneintrittsalter steigt damit automatisch die durchschnittliche Rentenbezugsdauer. Da gleichzeitig die Anzahl der Beitragszahler schrumpfen wird, gerät die Finanzierung des Sozialversicherungssystems zunehmend in Schieflage. Daran ändert die Möglichkeit der Bezuschussung der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) aus dem Bundeshaushalt nichts, denn die Steuerlast trifft ebenso wie die Beitragslast vorwiegend die junge, wirtschaftlich aktive Generation.
(105) Unter dem aktuell geltenden Recht steigen der Beitragssatz sowie die Zuschüsse des Bundes an die GRV kontinuierlich an, während das Sicherungsniveau, das die Rente ins Verhältnis zu den Löhnen setzt, zurückgeht. Abbildung 13 Ein sinkendes Sicherungsniveau bedeutet als relatives Maß keinesfalls, dass die tatsächlichen Rentenzahlungen absolut oder real zurückgehen, sondern dass sie langsamer wachsen als die Löhne(JG 2016 Ziffern 560 ff.). Rentenkürzungen sind hingegen seit dem Jahr 2009 ausgeschlossen (JG 2016 Ziffer 579). Zudem werden mit einer Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters höhere Rentenansprüche erworben. Demgegenüber werden für den bei der Berechnung des Sicherungsniveaus betrachteten Standardrentner 45 Beitragsjahre zugrunde gelegt (JG 2016 Ziffer 560). Damit unterschätzt das Sicherungsniveau die tatsächliche Rentenentwicklung bei steigendem Renteneintrittsalter.
(106) Die Bundesregierung hat nun eine doppelte Haltelinie beschlossen (BMAS, 2018b). Diese soll bis zum Jahr 2025 den Beitragssatz unter 20 % und das Sicherungsniveau über 48 % halten. Bemerkenswert ist, dass dies im Vorgriff auf die Ergebnisse der im Juni eingesetzten Rentenkommission entschieden wurde, die erst im Jahr 2020 vorliegen sollen. In der Diskussion ist zudem, das Sicherungsniveau bis zum Jahr 2040 bei 48 % zu stabilisieren.
(107) In einer Aktualisierung der in früheren Jahresgutachten verwendeten Tragfähigkeitsanalyse (JG 2016 Ziffern 592 ff.; Werding, 2016) hat Professor Werding die Auswirkungen solcher Haltelinien für den Sachverständigenrat simuliert. Im Referenzszenario, welches das aktuell geltende Recht abbildet, würde die Haltelinie für das Sicherungsniveau im Jahr 2024 unterschritten, der Beitragssatz würde ab dem Jahr 2028 über der Haltelinie von 20 % liegen.
Der Beitragssatz steigt bedeutend schneller an, wenn ohne andere Änderungen des Rentensystems die Haltelinie für das Sicherungsniveau bei 48 % bis zum Jahr 2040 eingezogen wird. Im Jahr 2040 läge er dann bei 24,3 %. Wollte man beide Größen mit einer doppelten Haltelinie bis zum Jahr 2040 fixieren und dies komplett über höhere Bundeszuschüsse finanzieren, müssten diese noch stärker ansteigen als unter aktuell geltendem Recht. Sie würden gemäß dieser Simulationen im Jahr 2040 bei rund 5,1 % des nominalen BIP liegen und damit 1,8 Prozentpunkte höher als im Referenzszenario. Abbildung 13 Zum Ausgleich könnte die Steuerquote um diesen Betrag steigen, was dann jedoch ebenfalls die Belastung steigern würde.
(108) Eine weitere Option wäre es, das durchschnittliche Renteneintrittsalter zur Abfederung zu erhöhen. Ohne weitere Anpassungen müsste dieses bis zum Jahr 2040 sehr stark auf 72,3 Jahre steigen. Abbildung 13 Dies dürfte keine realistische Option darstellen. Ebenso wenig kann eine höhere Erwerbsmigration die Probleme des umlagefinanzierten Systems vollständig lösen. Selbst wenn die Zuwanderer eine passgenaue Qualifikation mitbrächten, müsste der Wanderungssaldo unter sonst identischen Annahmen kontinuierlich auf jährlich rund 1,5 Millionen Personen im Jahr 2040 steigen. Ein stärkeres Produktivitätswachstum würde hingegen das Sicherungsniveau kaum beeinflussen, da dieses in Relation zu den damit einhergehenden steigenden Löhnen ausgedrückt wird. Die tatsächlichen realen Rentenzahlungen würden jedoch steigen. Dies verdeutlicht zugleich, dass es zu kurz gedacht ist, die Diskussion lediglich an dem abstrakten Maß des Sicherungsniveaus festzumachen.
(109) Nach Einschätzung des Sachverständigenrates ist es weiterhin die sinnvollste Lösung, das Rentensystem über eine ausgewogene Verteilung der Lasten des demografischen Wandels zu stabilisieren. Dafür sollte das Renteneintrittsalter an die fernere Lebenswartung gekoppelt werden. Künftige Anstiege der Lebenserwartung würden damit zwischen längerer Rentenbezugsdauer und verlängertem Arbeitsleben aufgeteilt. Bei der aktuellen Aufteilung des Erwachsenenlebens zwischen Arbeit und Ruhestand würde dies pro zusätzlichen drei Jahren Lebenserwartung in etwa eine Ausdehnung der Arbeitszeit um zwei Jahre bedeuten. Das gesetzliche Renteneintrittsalter könnte bis zum Jahr 2080 in der Folge auf 71 Jahre steigen. Dies würde wohlgemerkt erst für die Geburtsjahrgänge ab 2009 gelten und wäre ein wichtiger Beitrag für die Demografiefestigkeit des Sozialversicherungssystems (JG 2016 Ziffern 599 ff.).
Flankiert werden müsste dies durch flexiblere Weiterbildungs- und Umschulungsmöglichkeiten sowie eine bessere Absicherung bei Erwerbsminderung. Zudem sollte es Rentnern erleichtert werden, über das gesetzliche Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten. Die Ausweitung der Hinzuverdienstgrenzen mit dem Flexirentengesetz ist daher ein Schritt in die richtige Richtung. Demografieblinde rentenpolitische Maßnahmen wie die Rente mit 63 Jahren für langjährig Versicherte oder die Mütterrente I und II weisen in die entgegengesetzte Richtung und erfordern zukünftig schärfere Anpassungen.
- Vermeidung einer doppelten Haltelinie bei Beitragssatz und Sicherungsniveau über das Jahr 2025 hinaus
- Flexibilisierung des gesetzlichen Renteneintrittsalters und Kopplung an die fernere Lebenserwartung, um eine einseitige Belastung der jüngeren Generationen zu vermeiden
- Vermeidung demografieblinder Maßnahmen wie der Mütterrente II, welche die ohnehin bestehende Tragfähigkeitslücke zulasten der nachfolgenden Generationen verschärfen
3. Wohnimmobilien und Eigentumserwerb
(110) Wohneigentum ist ein zentrales Element der privaten Vermögen und somit der privaten Alterssicherung. Doch Deutschland ist traditionell ein Land der Mieter. Ein Ansatz, um die finanzielle Absicherung der alternden Gesellschaft zu verbessern, ist die Förderung der privaten Vermögensbildung, insbesondere des privaten Wohneigentums. Doch in den vergangenen Jahren sind die Preise für Wohnimmobilien stark angestiegen. Die Mieten für neuvermietete Wohnungen haben sich ebenfalls deutlich erhöht, allerdings weit weniger als die Immobilienpreise. Eine Ursache für diese Preiserhöhung liegt darin, dass die Nachfrage nach Wohnraum insbesondere in den Ballungszentren stärker zugenommen hat als das Angebot. Um den sich daraus ergebenden sozialpolitischen Herausforderungen zu begegnen, sind vor allem Maßnahmen zur Ausweitung des Wohnraumangebots angezeigt.
Angebot von Wohnimmobilien ausweiten
(111) Vornehmlich in den deutschen Ballungszentren ist seit dem Jahr 2010 eine steigende Preisentwicklung bei Wohnimmobilien und Angebotsmieten beobachtbar. Ziffer 660 Haushalten in den Städten fällt es daher offenbar zunehmend schwer, im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten eine ihren Wünschen entsprechende Mietwohnung zu finden oder Wohnimmobilien zur Selbstnutzung zu erwerben. Zentrale Ursache hinter diesen Preisentwicklungen sind demografische Entwicklungen, allen voran ein starker Zuzug in die größten deutschen Städte.
Aus der stark wachsenden Nachfrage nach Wohnraum in den Ballungszentren ergeben sich sozial- und wohnungsbaupolitische Probleme, da sozial schwächere Haushalte in besonderer Weise von den Wohnkosten belastet werden (Dustmann et al., 2018) und in manchen Städten eine soziale Segregation die Folge sein könnte. Ziffer 697 Eine wichtige wohnungspolitische Stellschraube zur Dämpfung der Nachfrage nach städtischem Wohnraum dürfte die bessere Anbindung des jeweiligen Umlands an den öffentlichen Nahverkehr darstellen.
(112) Der wichtigste Hebel liegt jedoch in einer Ausweitung des Angebots. Am Immobilienmarkt kann sich das Angebot nicht unmittelbar an die Nachfrage anpassen, insbesondere wegen des im städtischen Raum nur begrenzt verfügbaren Baulands. Regulierungen wie die Mietpreisbremse, die den Anstieg der Mieten begrenzen, setzen allerdings nur an den Symptomen an. Wohnungspolitische Maßnahmen wie das Baukindergeld treiben die Preise tendenziell sogar weiter an. Geeignetere Maßnahmen zur Angebotsausweitung wären etwa steuerliche Anreize und eine gelockerte Regulierung. Insbesondere wäre eine offene Debatte darüber angezeigt, wie Zielkonflikte zwischen der Bereitstellung günstigen Wohnraums und ökologischen Ansprüchen aufgelöst werden sollen.
Zielführend ist das Wohngeld, da es als Instrument der Subjektförderung nicht direkt in Marktprozesse eingreift. Der Kreis der Begünstigten ist aufgrund der niedrigen Einkommensgrenze allerdings gering. Ziffer 711 Bei der sozialen Wohnraumförderung müssen Fehler der Vergangenheit vermieden werden, indem für eine soziale Durchmischung gesorgt wird und die Förderung zeitnah an die Einkommenssituation der Mieter angepasst wird.
Eine Ausweitung des Angebots wird durch verfügbare Flächen begrenzt. Die Grundsteuer sollte jedoch nicht spezifisch ausgestaltet werden, um brachliegende Grundstücke zu mobilisieren. Ziffer 727 Bei der anstehenden Reform ist es erforderlich, Argumente zur Berücksichtigung des Immobilienwerts, etwa in Form der Bodenwertsteuer, und damit möglicherweise verbundene Segregationseffekte gegeneinander abzuwägen. Dies spricht für eine hybride Lösung. Ziffer 735
(113) Der Immobilienerwerb privater Haushalte wird durch hohe Transaktionskosten erschwert. Denkbar wäre es, einen Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer einzuführen. Dies würde jedoch eine Reform des Länderfinanzausgleichs dahingehend erfordern, dass anstelle des durchschnittlichen Steuersatzes über die Länder ein fiktiver Steuersatz von etwas unter 3,5 % für den Finanzausgleich unterstellt wird. Ziffer 749
(114) Darüber hinaus werfen die Preisentwicklungen bei Wohnimmobilien weitere wirtschaftspolitische Fragen auf. Ein abrupter Preisrückgang wäre mit gesamtwirtschaftlichen Risiken verbunden. Bisher zeichnen sich keine bundesweiten Preisübertreibungen ab, in den Großstädten sind Überbewertungen jedoch nicht auszuschließen. Ziffer 676
Kredite und Verschuldung entwickeln sich nach wie vor moderat. Daher bestehen derzeit wohl keine akuten Risiken aus der Immobilienfinanzierung für die Finanzstabilität. Ziffer 689 Bei einem Preisverfall der Immobilien ist allerdings mit spürbaren Verlusten bei Banken zu rechnen. Hinzu kommen deutlich gestiegene Zinsänderungsrisiken. Daher sollten makroprudenzielle Maßnahmen in Erwägung gezogen werden, zumal ein verspäteter Instrumenteneinsatz zu befürchten ist. Zusätzlich sollten die Datenlage über Wohn- und Gewerbeimmobilienkredite verbessert und zusätzliche makroprudenzielle Instrumente im Immobilienbereich geschaffen werden.
Private Vermögensbildung flexibilisieren
(115) Die privaten Haushalte in Deutschland weisen im internationalen Vergleich ein geringes mittleres Nettovermögen – gesamtes Vermögen abzüglich Schulden – auf (EZB, 2013). Zudem zeichnet sich Deutschland durch eine im internationalen Vergleich relativ starke Vermögensungleichheit aus (JG 2016 Abbildung 111). Zur Messung der Ungleichheit der Vermögen wird der Gini-Koeffizient herangezogen, der bei absoluter Gleichheit den Wert 0, bei größtmöglicher Ungleichheit den Wert 1 annimmt. Deutschland liegt diesbezüglich auf dem Niveau etwa von Schweden und der Schweiz, mit deutlichem Abstand vor Frankreich, Italien oder Japan und hinter den Vereinigten Staaten und Dänemark.
(116) Das geringe Haushaltsvermögen spiegelt allerdings eine Reihe von nationalen Besonderheiten wider. So werden in Deutschland durch die staatliche Altersvorsorge (erste Säule der Alterssicherung) hohe Rentenanwartschaften aufgebaut, auf die während der Erwerbsphase nicht zugegriffen werden kann und die daher nicht formal als Vermögenswert gezählt werden. Werden die Anwartschaften an die Gesetzliche Rentenversicherung sowie an betriebliche und private Renten jedoch als Vermögensbestandteile berücksichtigt, ergibt sich ein „erweitertes Vermögen“. Dieses ist in Deutschland mehr als doppelt so hoch wie das durchschnittliche Nettovermögen. Abbildung 14 oben
In den Vereinigten Staaten spielen die Rentenansprüche der privaten Haushalte relativ betrachtet eine geringere Rolle. Während das durchschnittliche Nettovermögen in den Vereinigten Staaten beinahe doppelt so groß ist wie in Deutschland, beläuft sich die Relation des erweiterten Vermögens im Jahr 2012 nur auf das 1,4-fache, mit 494 000 Euro in den Vereinigten Staaten und 359 000 Euro in Deutschland.
(117) Darüber hinaus ist das „erweiterte Vermögen“ wesentlich weniger ungleich verteilt (Bönke et al., 2016, 2017; Peichl und Stöckli, 2018). Die Nettovermögen sind mit einem Gini-Koeffizienten von 0,77 in Deutschland und 0,89 in den Vereinigten Staaten relativ ungleich verteilt. Abbildung 14 unten Die Ungleichheit des erweiterten Vermögens in Deutschland beträgt hingegen 0,51, was ungefähr dem Gini-Koeffizienten der Verteilung der Bruttoeinkommen entspricht, und 0,70 in den Vereinigten Staaten. In Deutschland geht die statistisch ausgewiesene Vermögensungleichheit durch den Einbezug des „erweiterten Vermögens“ also relativ stärker zurück.
(118) Die Vermögensverhältnisse in Deutschland sind somit stark mit den umfangreichen Anwartschaften an die Gesetzliche Rentenversicherung (1. Säule), aber auch mit Ansprüchen aus betrieblichen (2. Säule) und privaten (3. Säule) Renten verwoben. Bei der betrieblichen Altersvorsorge behält der Arbeitgeber einen Teil des Gehalts ein, um den Arbeitnehmern nach der Erwerbsphase eine Rente auszuzahlen. Vor allem größere Unternehmen können aufgrund von Skaleneffekten eine höhere Rendite erzielen als der einzelne Arbeitnehmer; zudem sind für diese die Kosten der Vermögensverwaltung und Informationsbeschaffung geringer (JG 2016 Ziffern 580 ff.). Zum einen resultiert daraus ein zusätzlicher Anreiz, privat vorzusorgen, zum anderen werden jedoch das verfügbare Einkommen und dadurch die Freiheit der individuellen Sparentscheidung beeinträchtigt.
(119) Außerdem weist Deutschland im internationalen Vergleich einen geringen Anteil der Haushalte mit selbstgenutztem Wohneigentum auf. Besonders in Ballungsgebieten wohnen viele Haushalte in einer gemieteten Immobilie (JG 2016 Kasten 28). Das insgesamt relativ wenig verbreitete Wohneigentum spiegelt sich im durchschnittlichen Haushalts-Nettovermögen wider. So kann die selbst gesteckte Verpflichtung zur Finanzierung von Wohneigentum einen Anreiz zum Sparen setzen, der eine Steigerung des privaten Vermögens zur Folge hat.
(120) Die private Vermögensbildung in Deutschland ist stark durch die staatliche Förderung der Geldvermögensbildung geprägt. Die private Vermögensbildung könnte durch eine größere Wahlfreiheit neutraler ausgestaltet werden. Vorbild könnten hierbei die Regelungen des Schweizer Modells der Altersvorsorge sein. Dort ist die Entnahme oder Beleihung des gebildeten Vermögens zur Finanzierung von selbstgenutztem Wohneigentum möglich, bevor das eigentliche Rentenalter erreicht wird. Kasten 21 seite 375
(121) Seit dem Jahr 2008 besteht in Deutschland durch die „Eigenheimrente“ die Möglichkeit der Einbeziehung selbstgenutzten Wohneigentums in die Förderung durch die Eigenheimzulage („Wohn-Riester“). Die Riester-Rente leidet jedoch unter einer geringen Markttransparenz sowie zuweilen schlechten Beratungsdienstleistungen (JG 2016 Ziffern 643 ff.). Sollten verbesserte Informationslage und Transparenz die Akzeptanz nicht erhöhen, könnte die Riester-Rente durch regulatorisch definierte, nichtstaatliche Standardprodukte mit Opt-out-Regelung gestärkt werden (JG 2016 Ziffer 645). Eine Möglichkeit hierfür wäre das auf europäischer Ebene diskutierte Pan-European Pension Product. Ziffer 552
- Angebotsausweitung durch Abbau von Regulierungen wie der Mietpreisbremse; Senkung von Transaktionskosten durch Reform der Grunderwerbsteuer; sozialer Segregation begegnen
- Öffnung der betrieblichen Altersvorsorge für den Erwerb von selbstgenutztem Wohneigentum
- Schaffung zusätzlicher makroprudenzieller Instrumente und Erwägung des Einsatzes makroprudenzieller Maßnahmen
4. Stärkung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen
(122) Die finanziellen Belastungen im Gesundheitssystem dürften durch den demografischen Wandel und den medizinischtechnischen Fortschritt zukünftig spürbar ansteigen. Dabei ist das Niveau der Gesundheitsversorgung im internationalen Vergleich hoch. Obwohl die dafür vorgehaltenen hohen Kapazitäten in den vergangenen Jahren bereits abgebaut worden sind, gibt es derzeit kein anderes Land in Europa mit so vielen Krankenhausbetten je Einwohner und einer längeren durchschnittlichen Krankenhausaufenthaltsdauer. Gleichzeitig ist die Krankenhausstruktur durch viele kleine und wenig spezialisierte Krankenhäuser gekennzeichnet, sodass teilweise Operationen in Krankenhäusern durchgeführt werden, die nicht über die eigentlich dafür erforderliche Ausstattung verfügen. Solche Indizien deuten in verschiedenen Bereichen auf eine Über- und Fehlversorgung im Gesundheitssystem hin. Ziffern 801 ff.
(123) Bestehende Effizienzpotenziale im Gesundheitsbereich könnten insbesondere durch wettbewerbliche Elemente gehoben werden. Auf dem Krankenversicherungsmarkt hat die Einführung von Zusatzbeiträgen den Krankenkassenwechsel von Versicherten befördert und so den Kassenwettbewerb belebt. Ziffern 830 ff. Zusatzbeiträge sind ein zentrales Element zur nachhaltigen Finanzierung des Krankenversicherungssystems, da sichergestellt werden kann, dass entstehende Defizite in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausschließlich durch Zusatzbeiträge ausgeglichen werden. Durch die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der GKV zum 1. Januar 2019 könnte der Wettbewerb zwischen Krankenkassen jedoch an Bedeutung verlieren, weil Arbeitnehmer den Zusatzbeitrag zukünftig nur noch hälftig tragen müssen.
(124) Um die bestehende Einkommensumverteilung im Krankenversicherungssystem vollständig ins Steuersystem zu überführen, sollten Zusatzbeiträge einkommensunabhängig und nicht wie derzeit einkommensabhängig erhoben werden. Der Sachverständigenrat bekräftigt daher seine Einschätzung, dass es sinnvoll wäre, das System in Richtung einer Bürgerpauschale umzustellen. Für Personen mit geringeren Einkommen wäre dabei ein aus Steuermitteln zu finanzierender sozialer Ausgleich vorzusehen.
(125) Größere Effizienzpotenziale dürften im Hinblick auf eine Begrenzung der zu erwartenden Ausgabensteigerungen aufseiten der Leistungserbringer bestehen. So sind gerade im stationären Sektor in vielfacher Sicht Effizienzmängel zu beobachten, sei es durch eine nicht bedarfsgerechte Krankenhausbedarfsplanung, durch kommunalpolitische Interessen, die Marktaustritte einzelner Krankenhäuser verhindern, oder durch die Verpflichtung von Krankenkassen gegenüber Plankrankenhäusern, selbst bei Qualitätsmängeln die stationäre Behandlung ihrer Versicherten voll zu vergüten.
(126) Die bereits begonnene Strukturbereinigung im Krankenhaussektor sollte daher konsequent fortgeführt und damit Kapazitäten weiter abgebaut werden. Ziffern 858 ff. Der dafür von der Bundesregierung eingeführte Strukturfonds geht in die richtige Richtung, sollte in Zukunft aber verstärkt Krankenhauskapazitäten reduzieren. Da die Länder ihren Verpflichtungen für die Finanzierung der Investitionskosten der Krankenhäuser nicht in ausreichendem Maße nachkommen, sollte darüber hinaus die Finanzierung der Betriebs- und Investitionskosten ganz bei den Krankenhäusern angesiedelt und somit das Finanzierungssystem von einer dualen auf eine monistische Finanzierung umgestellt werden. Ziffern 849 ff.
(127) Der Vertragsmarkt zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern ist derzeit durch Kollektivverträge geprägt, in denen Krankenkassenverbände gemeinsam und einheitlich mit den maßgeblichen Organisationen der Leistungserbringer die Grundlagen der Versorgung und Leistungsvergütung vereinbaren. Dies schränkt den Wettbewerb jedoch stark ein. Eine regional differenzierte Lockerung des Kontrahierungszwangs für Krankenkassen gegenüber Krankenhäusern und die damit einhergehende Option zur Schließung von Selektivverträgen gäbe Krankenkassen die Möglichkeit, ihre Versicherten gezielt in solche Krankenhäuser zu steuern, die Qualitätsstandards, wie beispielsweise Mindestmengen, einhalten. Ziffern 864 ff. Dies könnte den Druck auf qualitätsarme Krankenhäuser erhöhen. Zumindest in Ballungsgebieten bliebe die Sicherstellung der stationären Versorgung aufgrund hoher Krankenhausdichte weiterhin gewährleistet.
(128) Selektivverträge stellen zudem eine Möglichkeit dar, um den ambulanten und stationären Sektor stärker zu verflechten. Die weitgehende Trennung dieser beiden Sektoren ist ein großes Wettbewerbshemmnis im Gesundheitsbereich. Sie betrifft beispielsweise die Bedarfsplanung, die Vergütung, die Mengensteuerung und die Qualitätssicherung. Ansätze, welche die sektorenübergreifende Versorgung verbessern können, haben ein großes Potenzial, die Effektivität im Gesundheitswesen zu erhöhen. Ziffern 870 ff. Angesichts hoher bestehender Hürden sollte insbesondere an der ambulant-stationären Schnittstelle, wie beispielsweise bei der Notfallversorgung, eine integrierte Versorgung vorangetrieben werden.
(129) Viele der Engpassberufe, welche die BA auflistet, betreffen den Gesundheitssektor. Dort dürfte sich der Fachkräfteengpass in den kommenden Jahren besonders verschärfen, da mit der Alterung der Gesellschaft und dem medizinisch-technischen Fortschritt die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen zunehmen dürfte. In der Altenpflege, der die BA (2018d) schon heute einen flächendeckenden Fachkräftemangel attestiert, ist dies in besonderem Maße zu erwarten, da die Anzahl der pflegenden Angehörigen rückläufig ist. Werden keine geeigneten Gegenmaßnahmen getroffen, so kann sich im Gesundheits- und Sozialwesen nach Modellrechnungen gegenüber dem Ausgangsjahr 2016 bis zum Jahr 2030 eine Diskrepanz zwischen der Nachfrage nach und dem Angebot an Fachkräften von bis zu 1,3 Millionen Personen, gemessen in Vollzeitäquivalenten, aufbauen (Augurzky und Kolodziej, 2018). Ziffer 820
- Reduktion der hohen Kapazitäten und kleinteiligen Krankenhausstrukturen durch wettbewerbliche Elemente und Strukturbereinigung im Krankenhaussektor
- Finanzierung der Krankenkassen durch einkommensunabhängige Zusatzbeiträge und Weiterentwicklung des Krankenversicherungssystems zu einer Bürgerpauschale mit sozialem Ausgleich
- Umstellung der Krankenhausfinanzierung von einem dualen auf ein monistisches System und Ausbau der sektorenübergreifenden Versorgung
V. DIGITALISIERUNG: RAHMENBEDINGUNGEN SCHAFFEN, CHANCEN ERGREIFEN
(130) Es dürfte so gut wie unmöglich sein, den durch den demografischen Wandel bedingten Rückgang des Arbeitsvolumens vollständig zu kompensieren. Vielmehr wird ein stärkeres Produktivitätswachstum benötigt, um den Wachstumspfad des Einkommens je Einwohner zumindest annähernd bewahren zu können. Dies kann nur über Nettoinvestitionen in Produktivkapital und durch Innovationen gelingen. Große Hoffnungen liegen dabei auf der Digitalisierung, wenngleich deren Wirkung auf die Produktivitätsentwicklung bislang bescheiden ausfiel. Um die Potenziale der Digitalisierung heben zu können, sind Anpassungen etwa am regulatorischen Rahmen und bei Investitionen in Bildung und Infrastruktur nötig.
(131) Die Analyse der Effekte der Digitalisierung wird durch die oftmals dünne oder fehlende Datenbasis und Probleme bei der Messung volkswirtschaftlicher Größen erschwert (EFI, 2018). Dies gilt insbesondere für solche Dienstleistungen, die kaum Kosten für die Nutzer verursachen oder deren Nutzen sich nicht im Preis widerspiegelt. Starke Veränderungen von Produkten und beschleunigtes Qualitätswachstum stellen die Preismessung vor neue Herausforderungen (ZEW, 2018a). Daher sollte die Sammlung von Daten mit Bezug zur Digitalisierung und die konzeptionelle Fortentwicklung der offiziellen Statistiken vorangetrieben werden.
1. Wohlfahrtssteigernder technologischer Fortschritt
(132) Der technologische Fortschritt hat sich langfristig als der entscheidende Faktor für das Wirtschaftswachstum erwiesen (Solow, 1957). Seine jüngste Ausprägung ist die aktuell in der Öffentlichkeit prominent diskutierte Digitalisierung. Datiert man den Beginn der Digitalisierung auf die Kommerzialisierung des Internets in den 1990er-Jahren, die Einführung von Mikroprozessoren oder des ersten PCs in den 1970er-Jahren oder noch früher, ist sie ein Prozess, der schon lange voranschreitet. Dabei könnten die aktuellen Entwicklungen, etwa im Zusammenhang mit Industrie 4.0 oder maschinellem Lernen, den Prozess erheblich beschleunigen. Der potenziell disruptive Charakter hat die kritische öffentliche Debatte über ihre Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Gesellschaft nochmals verstärkt.
(133) Technologischer Fortschritt führt zu tiefgreifenden Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft. In der Vergangenheit haben große Innovationen wie die Dampfmaschine oder die Elektrizität zu einem vollständigen Umbau der Produktionsprozesse, des Arbeitsmarkts und der Gesellschaft geführt. Solche universell einsetzbaren Technologien (General purpose technologies; Bresnahan und Trajtenberg, 1995) betreffen weite Teile der Volkswirtschaft und haben das Potenzial, ausgehend von einem Teilbereich viele ökonomische und soziale Strukturen zu transformieren. Nun dürfte die Digitalisierung für Beschäftigte aller Qualifikationsniveaus und für Unternehmen fast jedes Wirtschaftsbereichs Veränderungen mit sich bringen.
(134) Wirtschaft und Gesellschaft waren bislang stets in der Lage, sich immer wieder an neue Technologien anzupassen. Im Aggregat sind über die lange Frist im Zuge des Wandels mehr neue Arbeitsplätze entstanden, als durch ihn verloren gegangen sind (JG 2017 Ziffern 746 ff.). Selbst für die Automatisierung und den Einsatz von Robotern finden Dauth et al. (2018) in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten keinen negativen Effekt auf die Beschäftigung einer Region, da Arbeitsplatzverluste im Verarbeitenden Gewerbe durch Arbeitsplatzgewinne im Dienstleistungssektor ausgeglichen wurden. Dabei entstanden neue Arbeitsplätze in Bereichen, die vor oder zum Zeitpunkt der Einführung der jeweiligen Technologie noch gar nicht vorstellbar waren.
Nicht zuletzt deshalb sind Schätzungen der Auswirkungen der Digitalisierung mit extrem großer Unsicherheit behaftet. Unstrittig dürfte allerdings sein, dass der technologische Wandel zusammen mit der internationalen Handelsintegration zu Verschiebungen von Arbeitsplätzen in andere Berufsfelder und Wirtschaftsbereiche führt Abbildung 15 und sich die am Markt nachgefragten Tätigkeiten teilweise grundlegend ändern werden.
(135) Während im Jahr 1950 der Anteil der Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft bei rund 25 % lag, waren es im Jahr 1970 nur noch gut 8 % und im Jahr 2016 1,4 %. Ebenso sank der Anteil im Produzierenden Gewerbe von 43 % im Jahr 1950 auf 24 % im Jahr 2016. Die Bereiche „Baugewerbe“ (-1,8 Prozentpunkte) und „Maschinenbau“ (-1,2 Prozentpunkte) verzeichneten dabei seit dem Jahr 1991 den stärksten Rückgang im Produzierenden Gewerbe. Umgekehrt ist der Anteil der Beschäftigten des gesamten Dienstleistungsbereichs von 33 % im Jahr 1950 auf 74 % im Jahr 2016 gewachsen. Den stärksten Anstieg seit dem Jahr 1991 verzeichneten dabei die Bereiche „Freiberufliche und technische Dienstleister“ (+2,6 Prozentpunkte) und „Gesundheitswesen“ (+2,6 Prozentpunkte).
Oberste Priorität sollte auf Anstrengungen liegen, die Bevölkerung besser zu befähigen, die Chancen des digitalen Wandels positiv für sich nutzen zu können (JG 2017 Ziffern 810 ff.).
(136) Mit dem technologischen Wandel gingen in der Vergangenheit große Produktivitätssteigerungen einher. Ob sich diese im Prozess der Digitalisierung ebenfalls einstellen werden, ist ungewiss. Der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktivität in Deutschland hat sich jedenfalls in den vergangenen Jahren eher verlangsamt (JG 2015 Ziffern 590 ff.). Ein bedeutender Teil dieser Verlangsamung ist auf die seit dem Jahr 2005 vollzogene Integration von Arbeitskräften mit niedrigerer Produktivität in den Produktionsprozess zurückzuführen (Elstner et al., 2018). Zudem hatte der technologische Fortschritt in Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) produzierenden Sektoren sowohl einen positiven Effekt auf die Produktion als auch auf die Beschäftigung in Deutschland, wodurch der Nettoeffekt auf die Produktivität nur moderat ausfällt (Elstner et al., 2018).
Insgesamt ist es äußerst schwierig, die Effekte der Digitalisierung auf die (zukünftige) gesamtwirtschaftliche Produktivität abzuschätzen. In der Vergangenheit hatten selbst die bedeutendsten neuen Technologien in ihrer ersten Zeit lediglich einen moderaten Einfluss auf das Produktivitätswachstum (Crafts, 2003). Wenn sich der technologische Wandel insgesamt beschleunigt, könnte die Digitalisierung daher ein Potenzial für größere Steigerungen der Produktivität in der Zukunft bereithalten. Die Voraussetzung für eine möglichst effiziente Anpassung und Nutzung der sich daraus ergebenden Chancen sind jedoch die richtigen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen für Unternehmen, Beschäftigte und Konsumenten.
(137) Im technologischen Wandel und insbesondere im Zuge der Digitalisierung fordern neue Firmen die etablierten Unternehmen heraus. Junge Unternehmen tragen in besonderem Maße zur Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität (JG 2015 Ziffern 680 ff.) und Beschäftigung (Criscuolo et al., 2014; Huber et al., 2017) bei. Deutschland liegt bei den Unternehmensgründungen jedoch mit seit Jahren sinkenden Zahlen im OECD-Vergleich lediglich im hinteren Drittel (EFI, 2018). Abbildung 16 oben
Dafür können zwar unter anderem konjunkturelle, arbeitsmarktpolitische und demografische Faktoren verantwortlich sein (JG 2015 Ziffer 682). Doch dürfte mindestens so schwer wiegen, dass in Deutschland die Unternehmen und Gründer entlang des gesamten Entstehungsprozesses erfolgreicher Unternehmen durch Regulierungen und Bürokratie stark eingeschränkt werden: Einschränkungen bei Forschung und Innovationen stehen am Anfang dieser Kette, eine hohe steuerliche Belastung und geringe gesellschaftliche Wertschätzung des aus unternehmerischem Handeln entstehenden persönlichen Gewinns an deren Ende. In Deutschland wären zwar Kapital, Forschung und Unternehmer vorhanden, dennoch findet die Unternehmensgründung oftmals im Ausland statt.
(138) Zwar könnten die im Koalitionsvertrag angekündigte Rückführung derBürokratie und Berichtspflichten eines der laut einer Umfrage unter jungen Unternehmen größten Hemmnisse reduzieren (Bitkom, 2018a). Es wäre jedoch anzuraten, zusätzlich an den steuerlichen Rahmenbedingungen und der Gründungs- und Unternehmensfinanzierung sowie am Bildungssystem und nicht zuletzt dem dort vermittelten Unternehmerbild anzusetzen (JG 2015 Ziffer 683).
Im Global Entrepreneurship Monitor (GEM, 2018) wird Deutschland bei der unternehmerischen Bildung in der Schule auf Rang 42 von weltweit 54 Ländern geführt. Zudem geben etwa lediglich 38 % der deutschen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren an, die Fähigkeiten und das Wissen zu besitzen, ein Unternehmen zu gründen. In den Vereinigten Staaten sind dies nach eigener Einschätzung 54 %, und der globale Durchschnitt liegt bei 49 % (GEM, 2018).
(139) Ein weiteres Hemmnis in Deutschland liegt in der im internationalen Vergleich geringen Verfügbarkeit von Wagniskapital für junge Unternehmen. Abbildung 16 unten Es erscheint allerdings volkswirtschaftlich nicht sinnvoll, das Volumen flächendeckend mit öffentlichen Mitteln zu erhöhen. So besteht die Gefahr, dass private Finanzierung verdrängt wird oder lediglich die am privaten Markt abgewiesenen Projekte öffentlich finanziert werden, sodass aus volkswirtschaftlicher Sicht die falschen Unternehmen finanziert werden. Diese Nachteile der öffentlichen Finanzierung könnten mit Kofinanzierungsmodellen eingedämmt werden, wobei jeweils private Akteure ebenfalls an der Projektauswahl und den Verlusten beteiligt werden (JG 2015 Ziffer 689).
(140) Allerdings liegt das Problem in Deutschland eher darin, dass die bereits reichlich vorhandenen öffentlichen Gelder das fehlende Volumen der privaten Geldgeber nicht kompensieren können. So kommen in Deutschland bereits 38 % des Wagniskapitals von öffentlichen Institutionen, in den Vereinigten Staaten sind es 0 %. Dennoch ist dort das gesamte Volumen ungefähr sechsmal so groß (AFME, 2017). Es gilt also, die Rahmenbedingungen und Anreize für privates Wagniskapital zu verbessern. Dazu zählt eine steuerliche Gleichstellung von Fremd- und Eigenkapital, etwa über die vom Sachverständigenrat vorgeschlagene Zinsbereinigung des Grundkapitals(JG 2012 Ziffern 385 ff.). Ziffern 640 ff.
Zudem könnten durch einen Ausbau der Kapitalmarktunion Finanzierungen verstärkt über den Kapitalmarkt und über andere Mitgliedstaaten der EU bereitgestellt werden. Ziffern 539 ff. Ein weiteres Anliegen der Kapitalmarktunion besteht darin, den Aktienmarkt für wachsende Unternehmen zu stärken. In den Vereinigten Staaten tragen nicht zuletzt die Pensionsfonds einen großen Teil zum privaten Wagniskapital bei. Hier könnte eine Stärkung der zweiten und dritten Säule im deutschen System der Altersvorsorge unterstützend wirken (JG 2016 Ziffern 615 ff.).
(141) Damit die Unternehmen und Erwerbspersonen die Chancen des technologischen Wandels nutzen können, sollte dieser nicht durch zu starre regulatorische Hürden behindert werden. Bei der Regulierung ist sorgfältig zwischen einem erhöhten Schutz und den sich daraus ergebenden Innovationshemmnissen abzuwägen. Innovationsoffenheit und die Bereitschaft zur regulatorischen Nachsteuerung sollten dabei die leitenden Prinzipien sein (JG 2017 Ziffer 62).
(142) In einigen Ländern und speziell in Deutschland ist die Reaktion auf Innovation in vielen Bereichen jedoch abwehrend und eine eher restriktive Regulierung zu beobachten. Nach einer Umfrage des Ipsos-Instituts hat nur etwa die Hälfte der Deutschen eine positive Einstellung gegenüber der Digitalisierung, wohingegen dieser Anteil in China bei 83 % und in Indien bei 90 % liegt (Ipsos, 2018). Ein Grund für die hierzulande abwehrende Haltung dürfte im mangelnden Vertrauen in neue Technologien liegen, etwa aufgrund von Sorgen eines unzureichenden Datenschutzes. Ziffer 161
Die positiven Effekte, die sich durch den technologischen Wandel ergeben, treten in der öffentlichen Debatte oft in den Hintergrund. Dramatische negative Vorhersagen nehmen den größeren Raum ein. Hier könnten Wirtschaft, Wissenschaft und Politik berechtigterweise stärker auf die Chancen und Vorteile durch den technologischen Wandel hinweisen und dennoch realistische Erwartungen kommunizieren. Vertrauen in digitale Technologien und ihre allgemeine Akzeptanz in der Gesellschaft wird sich dabei nur unter angemessener Beachtung ihrer Risiken aufbauen lassen.
(143) Insbesondere bei digitalen Dienstleistungen spielen Skaleneffekte eine große Rolle, weshalb der Marktgröße eine besondere Bedeutung zukommt. Abbildung 17 oben Auf der europäischen Ebene würde daher die konsequente Umsetzung des digitalen Binnenmarkts neuen und etablierten Unternehmen einen größeren Markt mit einheitlicher Regulierung und niedrigen Eintrittsbarrieren bieten. Abbildung 17 unten Der wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlamentes schätzt, dass eine Vollendung des digitalen Binnenmarkts durch höhere Effizienz und niedrigere Transaktionskosten jährlich mit 415 Mrd Euro zur Wirtschaftsleistung beitragen könnte (EPRS, 2015).
Als Hindernis erweisen sich dabei bislang vor allem die 28 unterschiedlichen Rechtssysteme. Beispielsweise betragen die Verwaltungskosten von Mehrwertsteuererklärungen für Online-Händler laut Europäischer Kommission aktuell rund 8 000 Euro jährlich für jeden EU-Mitgliedstaat, in dem diese tätig sind (Europäische Kommission, 2018l). Durch eine Richtlinie soll die Anmeldung zur Mehrwertsteuererhebung statt in jedem einzelnen Land in Zukunft über eine einzige Anlaufstelle möglich sein (Europäische Kommission, 2016).
- Betonung der Chancen des technologischen Wandels und insbesondere der Digitalisierung, durch die in der Vergangenheit per saldo mehr neue Arbeitsplätze entstanden sind
- Befähigung der Bevölkerung zur Anpassung durch richtige Rahmenbedingungen, bessere Gründungsfinanzierung und ein modernes Bildungssystem
- Stärkung der Innovationsoffenheit und gesellschaftlichen Wertschätzung des Unternehmertums, um Chancen und Vorteile des technologischen Wandels zu nutzen
2. Moderne digitale Infrastruktur und Verwaltung
(144) Ein wichtiger Faktor für einen möglichen Beitrag der Digitalisierung zur Produktivitätsentwicklung sind Investitionen in IKT sowie die dafür notwendige Infrastruktur (JG 2015 Ziffern 648 ff.). Bei den Investitionen in modernes IKT-Kapital ist Deutschland international, etwa im Vergleich zu den G7 Staaten, im hinteren Bereich (JG 2017 Ziffer 809). Ein Grund könnte das Fehlen von komplementären Investitionen etwa in die Weiterbildung der Mitarbeiter, Produktdesign oder immaterielle Ausgaben, wie eine effiziente Gestaltung von Unternehmen und innovationsfreundliche Managementstrukturen, sein (Elstner et al., 2016).
Speziell viele kleine und mittlere Unternehmen sind auf diesen Wandel anscheinend noch nicht hinreichend vorbereitet (Elstner et al., 2016). Zudem sollte das Bildungssystem entlang der gesamten Bildungskette verbessert und auf sich verändernde Anforderungen eingestellt werden (JG 2017 Ziffern 812 ff.). Dazu zählen etwa die Förderung grundlegender Schlüsselkompetenzen und der Ausbau des Informatikunterrichts und der digitalen Infrastruktur in den Schulen.
(145) In Deutschland haben zwar bereits 95 % der Haushalte Zugang zu leitungsgebundenem Breitband-Internet mit mindestens 6 Mbit/s (BMVI, 2017), jedoch ist die durchschnittliche maximale Verbindungsgeschwindigkeit im internationalen Vergleich gering (Akamai, 2017). Die Bundesregierung möchte daher laut Koalitionsvertrag (Bundesregierung, 2018a) einen „flächendeckenden Ausbau mit Gigabit-Netzen bis 2025” und dafür zehn bis zwölf Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln bereitstellen.
(146) Für zukünftige Anwendungen, wie autonomes Fahren oder Telemedizin, werden zwar aller Voraussicht nach höhere Verbindungsgeschwindigkeiten notwendig werden, womit sich bereits aus diesen Plänen ein Nachholbedarf für Deutschland ergibt. Es ist jedoch unklar, wo und mit welcher Technologie diese Geschwindigkeiten am effizientesten erreicht werden können. Schon die technologischen Anforderungen von bereits prognostizierbaren Anwendungen sind äußerst unterschiedlich. Zudem werden Unternehmen und Privathaushalte unterschiedliche Nutzungsverhalten und dadurch verschiedene Anforderungen an die Technologie aufweisen.
Keine einzelne Technologie, ob basierend auf Kupfer-, Koaxial- oder Glasfaserverkabelung oder Funk, wird aufgrund ihrer technischen und wirtschaftlichen Eigenschaften alle Anwendungsfälle optimal abdecken können (Monopolkommission, 2017). Empirisch können dem Ausbau und der Nutzung von Breitband oder allgemeiner Kommunikationsinfrastruktur zwar ökonomisch relevante, signifikante positive Effekte auf das BIP zugeschrieben werden. Jedoch ist der Effekt von Breitbandinternet statistisch nicht von mobilem Internet unterscheidbar (Bertschek et al., 2015). Aus einer Kosten-Nutzen-Perspektive ist es daher fraglich, ob der flächendeckende Ausbau auf nahezu 100 % mit einer bestimmten Technologie – der Glasfasertechnologie – verfolgt werden sollte (Briglauer und Gugler, 2018; JG 2017 Ziffer 805).
(147) Zudem folgt die Nachfrage nach schnellem Internet (basierend auf der Glasfasertechnologie) selbst dem relativ langsamen Ausbau nicht: In Deutschland werden derzeit lediglich 17 % und in der EU 19 % dieser Anschlüsse genutzt (EU Digital Scoreboard, 2018), und die nachgefragte Breitbandgeschwindigkeit liegt unter dem OECD-Durchschnitt (Akamai, 2017). Die Preise dürften dabei nicht der entscheidende Faktor sein, da diese in Prozent des verfügbaren Einkommens im europäischen Vergleich relativ niedrig sind (Europäische Kommission, 2017a). Hierfür dürften vielmehr bisher fehlende Anwendungen für schnelles Internet in privaten Haushalten und Unternehmen verantwortlich sein.
(148) Angesichts der vorangegangenen Überlegungen und der hohen Unsicherheit über die zukünftige Nachfrage nach schnellem Internet sowie den technologischen Fortschritt wäre ein Mix aus verschiedenen Technologien gegenüber dem flächendeckenden Ausbau mit Glasfaser vorzuziehen. Erfahrungen in Ostdeutschland in den 1990er-Jahren haben gezeigt, dass sich die intensive öffentliche Förderung einer spezifischen digitalen Technologie, in diesem Fall den optischen Anschlussglasfaserleitungen (OPAL), als teure Fehlinvestition herausstellen kann. Damals galt OPAL als Spitzentechnologie (Falck et al., 2014). Mit dem Internet als Massenphänomen stellte sich die Technologie jedoch aufgrund geringer Kapazitäten und unzureichender Kompatibilität mit der neuen DSL-Technologie zu Beginn der Jahrhundertwende als überholt heraus.
(149) Die Investitionsentscheidungen sollten vielmehr denjenigen überlassen werden, die nahe an den Marktteilnehmern und innovativen Entwicklungen sind. Eine höhere Wettbewerbsintensität würde sicherstellen, dass Anbieter auf die steigende Nachfrage angemessen reagieren. Im europäischen Vergleich ist die Macht des Marktführers (Monopolkommission, 2017) in Deutschland gemessen an den verrechneten Anschlusskosten nach wie vor hoch. Rund 40 % der leitungsgebundenen Anschlüsse entfielen im Jahr 2017 auf die Deutsche Telekom (Bundesnetzagentur, 2018a), beim Mobilfunk sind es die Deutsche Telekom, Vodafone und Telefónica zu je einem Drittel (Bundesnetzagentur, 2018b).
(150) Mehr Wettbewerb könnte beispielsweise durch eine Flexibilisierung der Zugangs- und Entgeltregulierung von Glasfaserinfrastrukturen oder durch Regulierungserleichterungen in Bezug auf Ausbaukooperationen geschaffen werden (Monopolkommission, 2017). Dabei geht es nicht zuletzt darum, die Marktmacht etablierter Anbieter nicht durch Regulierungen, wie etwa die Verrechnung „spürbar höherer Vorleistungspreise“, zur Steigerung der Attraktivität von Investitionen (BMWi, 2017) zusätzlich zu stärken.
In manchen Bereichen, in denen es aus gesellschaftlicher Sicht eine positive Kosten-Nutzen-Rechnung gibt (JG 2015 Ziffer 667), aber in denen private Investitionen aufgrund mangelnder Rentabilität nicht zu erwarten sind, kann eine staatliche Förderung notwendig sein. Diese sollte dann jedoch technologieneutral ausgestaltet sein. Zudem sollte es sich um im Einzelfall begründete Ausnahmen handeln, die sich an den lokalen Bedürfnissen ausrichten (JG 2017 Ziffern 805 f.). In jedem Fall sollte die Bundesnetzagentur die Kosten und den Nutzen des öffentlichen Ausbaus mit unabhängigen empirischen Analysen ex post evaluieren (Girard et al., 2018).
(151) Zudem könnten durch eine Lockerung der Netzneutralität Investitionsanreize geschaffen werden (Krämer und Wiewiorra, 2012; Monopolkommission, 2013b; Baake und Sudaric, 2018). Netzneutralität ist gegeben, wenn Netzbetreiber allen Haushalten und Anbietern von Inhalten die gleiche Qualität, in Form einer „gleichberechtigten und nichtdiskriminierenden Behandlung des Datenverkehrs“ (EU-Verordnung 2015/2120), anbieten. Im Koalitionsvertrag wird an der strikten Netzneutralität festgehalten. Dabei ist fraglich, ob dies ökonomisch sinnvoll ist und ob dies nicht zu Einschränkungen bei einigen neuen Anwendungen, etwa der Telemedizin oder dem autonomen Fahren, führt.
Eine Lockerung der Netzneutralität dürfte den Wettbewerb unter Netzbetreibern verstärken. Denn die derzeitige Beschränkung stellt entgegen anderen wettbewerblichen Eingriffen nicht auf die Marktmacht der Unternehmen ab, sondern gilt gleichermaßen für alle Unternehmen. Es sollte überprüft werden, ob der Zielkonflikt mit anderen nicht-ökonomischen Argumenten wirklich eine auf sachlichen Kriterien beruhende und nichtdiskriminierende Preis- und Qualitätsdifferenzierung (Monopolkommission, 2013b) unmöglich macht.
(152) Laut Koalitionsvertrag sollen für den Ausbau der Glasfasernetze die Erlöse aus der Vergabe von Mobilfunklizenzen (UMTS und 5G) eingesetzt werden. Dadurch wird die Glasfaser- gegenüber der Funk-Technologie bevorzugt. Durch diese Mittelvergabe an ein Unternehmen, das Glasfaser-Technologie bereitstellt, erhält dieses Unternehmen zudem einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil bei der Versteigerung der Mobilfunklizenzen. Dabei dürfte für viele Anwendungen der Ausbau der Mobilfunknetze wichtiger sein als eine nahezu 100 %-Abdeckung mit leitungsgebundenem Breitband.
(153) Ein Bereich, in dem Anwendungen für schnelles Internet entstehen könnten, wäre die Digitalisierung der Öffentlichen Verwaltung. Hierbei liegt Deutschland im internationalen und europäischen Vergleich zurück. Abbildung 18 oben Ein Ausbau könnte Effizienzpotenziale für die öffentliche Hand und die Bürger und Unternehmen bergen. Speziell die Nutzerfreundlichkeit und Bekanntheit von Online-Angeboten von öffentlichen Verwaltungen sind international unterdurchschnittlich (Europäische Kommission, 2017b). Beides könnte teilweise für die bisherige Ablehnung der existierenden Angebote oder das mangelnde Vertrauen, den Behörden Daten zu überlassen (Bitkom, 2018b), verantwortlich sein.
(154) Dass ein einheitliches zentrales Portal für Bürger und Unternehmen, wie es bereits seit Längerem in anderen Ländern etwa den Vereinigten Staaten, Finnland oder Estland besteht, im Koalitionsvertrag (Bundesregierung, 2018a) in Aussicht gestellt wird, ist begrüßenswert. Dies sollte zügig umgesetzt werden. Um die Nutzerfreundlichkeit weiter zu verbessern, fordert der Nationale Normenkontrollrat zudem, das „once-only“-Prinzip, das besagt, dass Daten nur ein einziges Mal von Behörden abgefragt werden sollen, konsequent umzusetzen und digitale Prozesse zur Regel zu machen.
Das von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag festgehaltene Normenscreening soll bestehende Gesetze auf ihre Digitaltauglichkeit prüfen (NKR, 2018). Zusätzlich bedarf es laut EFI (2016) eines umfangreicheren und digitalen Zugangs zu öffentlichen aktuellen Daten von Bund, Ländern und Kommunen, die maschinenlesbar zur Verfügung gestellt werden (Open Data).
(155) Das Gesundheitswesen ist ein weiterer Bereich, in dem durch die Digitalisierung bedeutende Effizienzgewinne möglich sind. Basierend auf einer achtstufigen Bewertung des digitalen Fortschritts in Krankenhäusern nimmt Deutschland im internationalen Vergleich nur einen hinteren Platz ein (HiMSS, 2017). Abbildung 18 unten Es besteht demnach Nachholbedarf. Basierend auf einer Befragung von Unternehmen im Gesundheitswesen halten jedoch nur 15 % die Digitalisierung für äußerst oder sehr wichtig (ZEW, 2018b). Das Bewusstsein für die Bedeutung dieses Themas scheint noch nicht in der Breite vorhanden zu sein.
(156) Ein zentraler Baustein der Digitalisierung im Gesundheitswesen ist die elektronische Patientenakte. Der Nutzung und Auswertung von personenbezogenen Daten im Gesundheitswesen kommt datenschutzrechtlich eine besondere Rolle zu. Unter Beachtung der Datenschutzrichtlinien und des Solidarprinzips könnten jedoch durch die stärkere Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien Erkrankungen vorgebeugt und räumliche Distanzen zur Behandlung von Personen überwunden werden.
Um diese Potenziale voll ausschöpfen zu können und eine Interoperabilität zwischen Patienten, Ärzten und Institutionen wie beispielsweise Krankenhäusern und Apotheken zu gewährleisten, wird eine flächendeckende, untereinander kompatible Telematikinfrastruktur benötigt. Neben der großen Hürde einer flächendeckenden Infrastruktur wird einer der großen Vorteile, die Überwindung räumlicher Distanzen, derzeit durch regulatorische Vorgaben, wie beispielsweise das Fernbehandlungsverbot, behindert. Ziffern 894 FF.
- Technologieneutrale Erhöhung der Verbindungsgeschwindigkeiten in Deutschland, mit stärkerer Wettbewerbsintensität und nur in Einzelfällen staatlich gefördert
- Nutzung von Effizienzpotenzialen in der Digitalisierung der Verwaltung und des Gesundheitswesens, etwa durch ein zentrales Portal und die elektronische Patientenakte
- Erhöhung privater IKT-Investitionen, etwa durch die Förderung komplementärer Investitionen und ein modernes Bildungssystem
3. Zurückhaltung bei industriepolitischen Eingriffen
(157) Immer dann, wenn der Strukturwandel sichtbar wird und sich technologische Umbrüche abzeichnen, werden die Rufe nach industriepolitischen Eingriffen lauter. Dies war im aktuellen Jahr in Deutschland etwa mit Verweis auf die Produktion von Batterien (BMWi, 2018b) oder die Fusion von Banken Ziffer 536 zu hören. Oftmals sind die Rufe gepaart mit Hinweisen auf die vermeintlich erfolgreiche Industriepolitik anderer Staaten, derzeit insbesondere in Bezug auf China.
(158) Um nachhaltig erfolgreich zu sein, sollte ein Innovationsstandort jedoch auf eine lenkende Industriepolitik verzichten, die es als staatliche Aufgabe ansieht, Zukunftsmärkte und -technologien als strategisch bedeutsam zu identifizieren (JG 2009 Ziffern 323 ff.). Es ist unwahrscheinlich, dass die Politik hinreichend über verlässliches Wissen und genaue Kenntnis der künftigen technologischen Entwicklungen oder Nachfrageänderungen verfügt, um dieses Vorgehen zu einer sinnvollen langfristigen Strategie zu machen. Geht es ihr um nachhaltigen Fortschritt, so sollte sie viel eher auf das dezentrale Wissen und die individuellen Handlungen verschiedener Akteure der Volkswirtschaft vertrauen.
Der Staat sollte vielmehr eine gute Infrastruktur bereit- und einen funktionierenden Wettbewerb sicherstellen, dabei jedoch auf die gezielte Unterstützung ausgewählter Technologien oder Unternehmen weitgehend verzichten. Ausnahmen können dann vorliegen, wenn die externen Effekte, wie bei der Grundlagenforschung und der Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (etwa im Rüstungsbereich), groß sind. Die Beweislast dafür, dass ein derartiges Versagen der Marktkräfte vorliegt, haben dann aber immer die Befürworter des Eingriffs.
(159) Das Potenzial für Fehlschläge ist umso größer, je kleinteiliger und gezielter die Politik vorgeht. Das Schicksal der Solarunternehmen in Ostdeutschland ist das Paradebeispiel dafür. Statt auf Marktmechanismen zu setzen und die Umsetzung dezentral agierenden Akteuren zu überlassen, versuchte die Politik damals letztlich vergeblich, mit einer detaillierten, technologiespezifischen Förderung neue Industrieunternehmen zu etablieren.
(160) Bei der Regulierung im Zusammenhang mit der Digitalisierung geht Deutschland ebenfalls äußerst kleinteilig und mit Augenmerk auf einzelne Interessengruppen vor. Als Beispiele dienen etwa die Preisbindung für E-Books, das Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln und bestimmten Taxidienstleistungen oder das Leistungsschutzrecht für Presseverleger. Besser wäre eine generelle Regulierung, die neue Geschäftsmodelle mit einschließt. Dabei sollte nicht nur die möglichst umfassende Unterstellung neuer Wettbewerber unter bestehende Regulierungen, sondern ebenso die Reduktion von Regulierung für bestehende Unternehmen in Betracht gezogen werden (Monopolkommission, 2015).
In diesem Zusammenhang entstehen nicht nur in Deutschland vor allem in fünf Dimensionen (Frenken et al., 2017) Fragen zur Nachjustierung der Regulierung, deren Beantwortung gleichzeitig zu einer höheren Akzeptanz neuer Geschäftsmodelle führen könnte:
- Fairer Wettbewerb: Der Rechtsrahmen muss sicherstellen, dass es für neue Bewerber und etablierte Unternehmen, die am gleichen Markt tätig sind, durch Regulierungen nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommt. Allerdings stellt nicht jede unternehmerische Differenzierung eine wettbewerbliche Diskriminierung für die etablierten Unternehmen dar, und es bedarf zur Beurteilung der wettbewerblichen Situation einer über die Marktanteile hinausgehenden Betrachtung (JG 2017 Kasten 21).
- Steuerliche Rahmenbedingungen: Es sollte durch die Steuergesetzgebung nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommen. Dabei ist die Durchsetzung der bestehenden steuerrechtlichen Regelungen gleichermaßen für Anbieter auf digitalen Plattformen und für traditionelle Anbieter sicherzustellen.
- Verbraucherschutz: Für neue Anbieter sollten die gleichen Mindestanforderungen gelten. Dies kann durchaus bedeuten, dass bestehende Einschränkungen beispielsweise des Marktzugangs bei Dienstleistungsberufen gelockert werden (JG 2015 Ziffer 628). Eine Rückkehr zur Meisterpflicht, wie derzeit diskutiert, geht in die falsche Richtung. Ebenso sind Qualitätskontrollen notwendig, wobei neue Formen der Umsetzung miteinbezogen werden könnten, beispielsweise über ein Beurteilungssystem durch eine große Anzahl an Konsumenten.
- Arbeitnehmerschutz: Die neuen Geschäftsmodelle verlangen oftmals flexiblere Regelungen, beispielsweise bei der Art der Anstellung oder der Arbeitszeit. In vielen Fällen werden diese von den Arbeitnehmern geschätzt, da sie das Anbieten der Dienstleistung erst ermöglichen. Gleichzeitig können die neuen Arbeitsverhältnisse Nachteile im Vergleich zu traditionellen Formen aufweisen. Beim Arbeitszeitgesetz sollte unter Einhaltung von Mindeststandards zusätzliche Flexibilität möglich sein, wenn die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber beide zustimmen. Ziffer 90
- Datenschutz und -sicherheit: Da digitale Anbieter oftmals im Ausland ansässig sind, ist die Kontrolle des Datenschutzes und der Sicherstellung von Privatheit schwierig, selbst wenn die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gleichermaßen für ausländische Unternehmen gilt. Dennoch muss sichergestellt sein, dass es diesbezüglich keine Diskriminierung von inländischen gegenüber ausländischen sowie traditionellen gegenüber neuen Anbietern gibt.
(161) Mit der seit Mai 2018 geltenden DSGVO der EU wurde der Datenschutz einheitlich geregelt. Die teilweise hohen datenschutzrechtlichen Anforderungen können zu hohen Aufwendungen der Unternehmen im Zusammenhang mit digitalen Technologien führen (Arntz et al., 2016). Bis Ende 2019 wird die ePrivacy-Verordnung erwartet, welche die DSGVO im Bereich der elektronischen Kommunikation ergänzen soll und Auswirkungen für die Digitalwirtschaft haben könnte. Ein vorgesehenes Opt-in-Verfahren würde die aktive Zustimmung der Nutzer beispielsweise bei der Erstellung von Nutzerprofilen oder dem Ausspielen personalisierter Werbung erforderlich machen. Dies könnte dazu führen, dass insbesondere kleinere Anbieter geringere Werbemarkt- und Refinanzierungsmöglichkeiten haben und große Online-Plattformen bevorteilt werden (Monopolkommission, 2018).
(162) Allerdings sind Datensicherheit, Datenschutz und die Sicherstellung der Privatsphäre in der digitalen Welt von großer Bedeutung. Der relativ strenge Datenschutz könnte in manchen Bereichen sogar zum Standortvorteil für Unternehmen und Konsumenten werden. Dies ist für Unternehmen etwa beim Schutz geistigen Eigentums oder Geschäftsmodellen zur Sicherung und Geheimhaltung von Daten der Fall. Laut Kretschmer et al. (2018) hat die DSGVO zudem das Potenzial, Wettbewerb zu entfalten, da personenbezogene Daten portabel sein müssen und es dadurch einfacher möglich ist, zu einem Konkurrenzangebot zu wechseln. Dies kann den Wettbewerb insbesondere im Versicherungsmarkt, bei Stromanbietern oder sozialen Netzwerken verstärken. Aufgrund von unzureichend definierten Standards und eingeschränkter Datenkompatibilität muss sich die Umsetzungsfähigkeit in der Praxis jedoch erst noch zeigen.
(163) Neben den hohen Anforderungen an den Datenschutz hat eine öffentliche Debatte – sowohl in der Politik als auch unter Juristen – bezüglich des Dateneigentums begonnen (Härting, 2016; Haas, 2017). Während objektive Daten, wie beispielsweise Alter und Geschlecht, von Personen weitergegeben werden können, erzeugen Algorithmen Daten aus Interaktionen und menschlichem Verhalten und können so Risikoprofile für Krankheiten, individuelle Gewohnheiten oder Zahlungsbereitschaften erstellen.
Wie Wambach und Müller (2018) ausführen, sollte die gesellschaftliche Diskussion darüber intensiviert werden, welche Daten genutzt werden dürfen und welche nicht. Dies erfordert einen geeigneten Ordnungsrahmen für die Datennutzung und die Definition von Standards, insbesondere bei der Datenanwendung. Ein geeigneter Ordnungsrahmen schafft größere Sicherheit und ist notwendig, um Innovationen zu fördern und Effizienzgewinne durch die Digitalisierung nicht zu behindern (JG 2017 Ziffer 66).
(164) Auf einigen Märkten haben digitale Plattformen (JG 2017 Kasten 21) und große digitale Unternehmen mittlerweile eine weltweite Monopolstellung erlangt. Die fünf weltweit größten Unternehmen nach Marktkapitalisierung sind digitale Unternehmen: Apple, Amazon, Alphabet (das Mutterunternehmen von Google), Microsoft und Facebook. Mittlerweile werden Rufe nach einer stärkeren Besteuerung dieser Unternehmen laut, was jedoch steuer- und handelspolitisch problematisch ist. Ziffern 615 ff.
Richtig ist hingegen, wie von der Bundesregierung geplant, eine Anpassung des Wettbewerbs- und Kartellrechts an die digitale Welt, wie von Schweitzer et al. (2018) vorgeschlagen. Dabei sollen Kartellbehörden etwa wettbewerbsfeindliches Verhalten bereits ahnden dürfen, bevor das Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung erreicht hat. Zudem sollen strategische Käufe von jungen Unternehmen, die künftige Wettbewerber sein könnten, unterbunden werden dürfen und der Zugang zu Daten der großen Unternehmen erleichtert werden.
- Verzicht auf lenkende Industriepolitik zugunsten einzelner Unternehmen und Technologien, stattdessen Sicherstellung einer guten Infrastruktur und eines funktionierenden Wettbewerbs
- Vermeidung von diskriminierender Regulierung von traditionellen und neuen Unternehmen und Geschäftsmodellen
- Modernisierung des Wettbewerbsrechts, aber keine Sondersteuern auf digitale Unternehmen
Eine andere Meinung
(165) Ein Mitglied des Sachverständigenrates, Peter Bofinger, kann sich der Kritik, die von der Mehrheit in diesem Kapitel an der Bundesregierung geübt wird, nicht anschließen. Die gilt zum einen für die generelle Einschätzung, dass sich die Regierung mit ihrer Politik in die falsche Richtung bewege und zum anderen für die konkrete Aussage, dass es der falsche Weg sei, „Forderungen nach industriepolitischen Eingriffen nachzugeben“.
(166) Im Prinzip wiederholt die Mehrheit damit ihre grundlegend negative Beurteilung der deutschen Wirtschaftspolitik, wie sie bereits im Jahresgutachten 2013 (und auch den folgenden Gutachten) zu finden ist. Damals wurde der neuen Regierung eine „rückwärtsgerichtete Wirtschaftspolitik“ diagnostiziert: „In ihrer Gesamtheit drohen die derzeit diskutierten wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die Reformfortschritte, die Deutschland in den vergangenen Jahren erzielen konnte, zunichte zu machen.“ Die Mehrheit hat diese Einschätzung damals mit der Warnung verbunden, dass die künftigen Herausforderungen sogar um ein Vielfaches schwerer zu bewältigen seien, wenn die Reformen der Agenda 2010 verwässert oder in Teilbereichen gänzlich zurückgenommen werden. Gleiches gelte für „wachstums- und beschäftigungsfeindliche Maßnahmen wie den Mindestlohn“.
Inzwischen sind fünf Jahre vergangen, die in wirtschaftlicher Hinsicht ungewöhnlich gut ausgefallen sind. Die deutsche Wirtschaft ist im Zeitraum von 2013 bis 2018 um rund 2 % jährlich gewachsen und die Anzahl der Beschäftigten liegt im Jahresdurchschnitt 2018 um mehr als 2,5 Millionen über dem Wert des Jahres 2013.
(167) Die Mehrheit kritisiert die Verschärfung des Einspruchsrechts in der Außenwirtschaftsverordnung, die der Bundesregierung mehr Kontrollrechte bei Beteiligungen und Übernahmen durch Investoren von außerhalb der EU einräumen soll. Es ist erstaunlich, wenn gerade Ökonomen, die einer aktiven Rolle des Staates im Wirtschaftsprozess ausgesprochen skeptisch gegenüberstehen, keine Bedenken haben, wenn technologisch führende deutsche Unternehmen von chinesischen Investoren erworben werden. Auch wenn es sich dabei um Unternehmen handelt, die sich formal im Privatbesitz befinden, ist es bei der unklaren Trennungslinie zwischen Staat und Wirtschaft, insbesondere im Finanzbereich, durchaus möglich, dass dabei der chinesische Staat im Hintergrund aktiv ist. (JG 2016 Ziffern 998 ff.)
(168) Nicht geteilt wird der Vorschlag einer Ausgabenregel für den Euro-Raum, Kasten 1 weil dieser zu einer erheblichen Einschränkung der fiskalpolitischen Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten des Euro-Raums führen kann (Bofinger, 2018).
Argumente für eine staatliche Industriepolitik
(169) Die Mehrheit spricht sich gegen eine „lenkende Industriepolitik“ aus, „die es als staatliche Aufgabe ansieht, Zukunftsmärkte und -technologien als strategisch bedeutsam zu identifizieren“. Es sei unwahrscheinlich, dass die Politik hinreichend über verlässliches Wissen und genaue Kenntnis der künftigen technologischen Entwicklungen oder Nachfrageänderungen verfüge, um dieses Vorgehen zu einer sinnvollen langfristigen Strategie zu machen. Sie sollte viel eher auf das dezentrale Wissen und die individuellen Handlungen verschiedener Akteure der Volkswirtschaft vertrauen.
Das Potenzial für Fehlschläge sei umso größer, je kleinteiliger und gezielter die Politik vorgehe. Ein Paradebeispiel hierfür sei das Schicksal der Solarunternehmen in Ostdeutschland.
(170) Gegen diese Sichtweise spricht die Literatur zur Industriepolitik, die es unter bestimmten Voraussetzungen für angemessen hält, dass der Staat lenkend in das Wirtschaftsgeschehen eingreift. Dabei hat schon John Maynard Keynes (1926) darauf hingewiesen, dass es für den Staat nicht darum gehe, Dinge zu tun, die die Privaten bereits tun und diese dann etwas besser oder schlechter zu tun. Vielmehr gehe es darum, die Dinge zu tun, die gegenwärtig überhaupt nicht getan werden. Es sind vor allem drei Faktoren, die ein industrie- und innovationspolitisches Handeln des Staates rechtfertigen können (Mazzucato, 2015):
- Unsicherheit in dem Sinne, dass keine Wahrscheinlichkeitsverteilung für die möglichen Ergebnisse bekannt ist,
- Netzwerkeffekte und Externalitäten, die ein koordiniertes Handeln von privaten und staatlichen Akteuren erfordern,
- Pfadabhängigkeiten, die sich vor allem im Bereich des Energiesektors aus hohen Fixkosten und der langen Lebensdauer von Investitionen ergeben.
(171) Das Problem der Unsicherheit oder zumindest sehr hoher Risiken kann dazu führen, dass private Akteure von innovativen Investitionen Abstand nehmen, obwohl sie diese nicht grundsätzlich negativ einschätzen. Dieser Sachverhalt wird oftmals unter den Begriff des „Kapitalmarktversagens“ gefasst (Chang et al., 2013). Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Entscheidung der Robert Bosch GmbH, die Entwicklung einer eigenen Produktion von Batteriezellen für die Elektromobilität einzustellen. Diese wurde explizit mit hohen Fixkosten und hohen Risiken begründet: Es bleibe mit Blick auf die dynamischen und nur schwer vorhersehbaren externen Marktfaktoren offen, ob und wann sich diese Investition für Bosch rechnen würde. Eine solch risikobehaftete Investition sei damit im Gesamtinteresse des Unternehmens nicht vertretbar (Bosch, 2018). Hierin spiegelt sich das grundsätzliche Problem wider, dass viele Unternehmen zunehmend bestrebt sind, eine Amortisation von Investitionen in vergleichsweise kurzer Zeit zu erreichen (Koller et al., 2017). Aus dieser Perspektive reicht es also nicht aus, auf das „dezentrale Wissen und die individuellen Handlungen“ der Marktakteure zu vertrauen.
(172) Das Problem der Koordination ergibt sich daraus, dass es bei der Innovation nicht mehr um isolierte Technologien und Branchen geht. Die meisten modernen Technologien sind vielmehr Systeme und ganze Wertschöpfungsketten mit Interdependenzen zwischen mehreren Branchen, die fortgeschrittene Materialien und Komponenten entwickeln ebenso wie Fertigungssysteme und Servicesysteme (Tassey, 2010; Keller und Block, 2012). Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung des Smartphones, dessen zentrale Komponenten (Internet, GPS, Touch-Screen-Display, SIRI) als Ergebnis staatlicher Forschungsförderung in den Vereinigten Staaten entwickelt worden sind (Mazzucato, 2015).
Innovationsprozesse sind also in hohem Maß interdependent und weisen dabei ausgeprägte positive Externalitäten auf, die von den einzelnen Unternehmen bei ihren Innovationsentscheidungen nicht angemessen berücksichtigt werden können. Förderlich für Innovationen sind daher „industrial commons“, worunter Pisano und Shih (2009) räumlich konzentrierte kollektive Forschungs-, Ingenieurs- und industrielle Produktionsfähigkeiten verstehen, die Innovationen vorantreiben.
(173) Das Problem der Pfadabhängigkeit wird von Aghion et al. (2011) darin gesehen, dass Unternehmen aufgrund von Externalitäten grundlegender Innovationen tendenziell an bestehenden Technologien festhalten. Dies begünstige insbesondere ein Festhalten an „schmutzigen Technologien“. Die Autoren belegen dies anhand einer Studie, die einen positiven Zusammenhang zwischen Innovationen in „saubere“ Technologien und den bereits vorhandenen Patenten eines Unternehmens in diesem Bereich aufweist und einen negativen Zusammenhang für den Bestand an Patenten in „schmutzige“ Technologien. Die bisher vergleichsweise geringen Erfolge deutscher Automobilunternehmen bei der Entwicklung von Elektroautos können in dieser Hinsicht als anekdotische Evidenz dienen.
Die Pfadabhängigkeit ist insbesondere im Wettbewerb mit einem Schwellenland problematisch, das eine bestimmte Entwicklungsstufe weitgehend überspringt, um dann bei einer fortschrittlicheren Technologie über eine bessere Wettbewerbsposition zu verfügen. Dies zeigt sich bei der Elektromobilität, bei der China – anders als beim Verbrennungsmotor – technologisch eine Führungsrolle einnimmt.
(174)China, aber auch andere asiatische Staaten sind insgesamt ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie es mit staatlicher Industriepolitik durchaus möglich ist, über Jahre hinweg erfolgreich Branchen zu identifizieren, die sich im internationalen Wettbewerb erfolgreich behaupten können.
Ein Beispiel hierfür ist insbesondere die Entwicklung und Fertigung von Solarzellen, wo es China gelungen ist, in kurzer Zeit zum weltweit größten Hersteller zu werden. Die rasante Entwicklung in diesem kapitalintensiven Bereich lässt sich nicht aus der konventionellen Perspektive der komparativen Vorteile erklären. Gang (2015) sieht darin vielmehr einen Erfolg des Staatskapitalismus als einem gemeinsamen ostasiatischen Entwicklungsmodell, bei dem Staaten eine signifikante und manchmal entscheidende Rolle in der Industrialisierung und der Schaffung von Märkten spielen.
Zu den Subventionen bei der Entwicklung und Produktion von Solarzellen zählen zinslose oder zinsbegünstigte Darlehen, Steuervergünstigungen, Forschungszuschüsse, günstige Grundstücke, Energiesubventionen sowie technologische, infrastrukturelle und personelle Unterstützung (Gang, 2015). Die Schattenseite der exzessiven Förderungen waren erhebliche Überkapazitäten, die zu einem starken Verfall der Weltmarktpreise führten. Weltweit kommen heute die drei größten Anbieter von Solarpanelen aus China, das rund zwei Drittel der Weltproduktion in den Jahren 2010 bis 2015 herstellte (Sanderson, 2018).
Wenn es ostdeutschen Unternehmen bei diesen massiven staatlichen Subventionen nicht möglich gewesen ist, sich auf dem Weltmarkt zu behaupten, spricht das nicht gegen die deutsche Industriepolitik. Es ist vielmehr ein Beleg dafür, dass es einzelnen Unternehmen schwerfällt, sich gegen die massive Förderung ihrer Konkurrenten durch die chinesischen Behörden durchzusetzen.
(175) Dies rechtfertigt nicht zuletzt die relativ spät in Gang gekommenen Bestrebungen der Europäischen Kommission und der Bundesregierung, über eine Europäische Batterie-Allianz eine eigene Fertigung von Batteriezellen zu fördern. So hat China dem Anbieter CATL neben massiven Krediten auch dadurch Wettbewerbsvorteile verschafft, dass Elektroautos nur dann staatliche Zuschüsse erhalten, wenn sie heimische Batteriezellen enthalten.
Das Konzept der im Oktober 2017 gegründeten europäischen Batterie-Allianz folgt dem hier skizzierten systemischen, innovationspolitischen Ansatz (Europäische Kommission, 2018m). Es ist bereits gelungen, ein „Ökosystem“ von rund 260 Akteuren aus den Bereichen Industrie und Innovation aus allen Segmenten der Batterie-Wertschöpfungskette zu mobilisieren und zu koordinieren.
(176) Die Notwendigkeit einer verstärkten europäischen Industriepolitik zeigt sich auch daran, dass wichtige deutsche Industrieunternehmen ihre anwendungsorientierten Forschungsaktivitäten nach China verlagern. So wird Schaeffler die „Fabrik der Zukunft“ in Xiangtan errichten, Bosch eine Industrie 4.0-Referenzfabrik in Xian, und Siemens plant sein globales Forschungszentrum für autonome Robotik in Peking. Das bestätigt die These von Tassey (2010), wonach Unternehmen ihre Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in Länder verlagern, die hierfür bessere FuE-Infrastrukturen und eine günstigere finanzielle Förderung vorweisen können.
Die Wissenschaftliche Gesellschaft für Produktionstechnik (WGP, 2018) sieht in der „Überführung von Schlüsseltechnologien für eine anpassungsfähige und damit flexible Automatisierung auf Basis autonomer (Teil-)Systeme von der Grundlagenforschung in die Anwendung der industriellen Produktion“ eine wichtige Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Es ist daher bedenklich, wenn die dafür erforderlichen „Living Labs“, also „ganze Fabriken, die quasi als reales Labor aufgebaut werden, um zu verstehen, wie Industrie 4.0 in der Praxis funktioniert“ (WGP, 2018) nicht in Deutschland, sondern in China erstellt werden.
(177) Es ist daher nicht zielführend, wenn Ökonomen (Feld et al., 2017) die Diskussion über die Bedeutung der Industriepolitik in Deutschland und Europa völlig losgelöst von solchen massiven Bestrebungen Chinas führen. Mit der Strategie „Made in China 2025“ strebt dieses Land eine dominante Stellung auf den Weltmärkten für Hochtechnologie-Produkte an, mit den expliziten Zielen der „self-sufficiency“ und der „indigenous innovation“ (Wübbeke et al., 2016). Bei dem hohen Industrieanteil und der zugleich hohen Bedeutung von Hochtechnologie-Industrie zählt Deutschland zu den Ländern, die von dieser Strategie in besonderer Weise betroffen sind. Abbildung 19 Da davon auszugehen ist, dass sich im globalen Wettbewerb um moderne Technologien diejenigen Länder durchsetzen werden, die innovationsfreundliche Ökosysteme schaffen (Tassey 2010), gehen die aktuellen industriepolitischen Bestrebungen der Bundesregierung durchaus in die richtige Richtung.
ANHANG
Vorschläge zur Reform der Welthandelsorganisation
(178) Die Welthandelsorganisation (WTO) wurde im Jahr 1995 zur Regelung einer multilateralen Handelsordnung gegründet. Seitdem ist die Zahl der Mitgliedstaaten auf 164 angewachsen. Verhandlungen zur Weiterentwicklung des Regelwerks, wie etwa seit dem Jahr 2001 innerhalb der Doha-Runde, sind bisher ohne Ergebnis geblieben. Bei bilateralen Gipfeltreffen der EU mit China, Japan sowie den Vereinigten Staaten wurde nun die Absicht bekräftigt, gemeinsam die WTO zu erneuern (Europäische Kommission, 2018n, 2018o, 2018q).
(179) In der Debatte um eine Reform der WTO werden insbesondere fünf Aspekte hervorgehoben. Erstens könnten Legitimität, Rechenschaftspflicht und Transparenz der WTO durch Behebung des Demokratiedefizits ausgebaut werden. Eckhardt (2013) und Elsig (2016) regen dazu die Einrichtung eines ständigen Beratungsgremiums für Unternehmen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen an, um den Informationsaustausch zwischen Regulierern und Stakeholdern zu verstärken. Basedow (2017) erwägt zudem eine intensivere Einbeziehung der nationalen Parlamente. Außerdem könnten die Kapazitäten des WTO-Sekretariats zur Erhebung von Handelsdaten und die wissenschaftliche Analyse insbesondere hinsichtlich Ausmaß und Wirkung handelshemmender Praktiken ausgeweitet werden (Elsig, 2016; Hoekmann et al., 2018).
(180) Zweitens könnten Reformen die Organisationsstruktur der WTO wirksamer und effizienter gestalten. Ein Exekutivkomitee könnte die allgemeine Strategie der WTO festlegen und die multilateralen Verhandlungen in den untergeordneten Komitees koordinieren (Abbott, 2013; Elsig, 2016). Bislang teilen sich zahlreiche, nach thematischen Verantwortungsbereichen geordnete Komitees, bestehend aus Vertretern der Mitgliedstaaten, die exekutive Funktion der WTO. Die Schaffung neuer Komitees, etwa in den Bereichen Online-Handel und globale Wertschöpfungsketten sowie die Abschaffung redundanter Komitees könnten zur Modernisierung beitragen (Elsig, 2016; Samans et al., 2016; Stephenson, 2016). Außerdem wird die Einbindung nationaler Regulierungsbehörden in die Arbeit der Komitees angeregt (Basedow, 2017).
(181) Seit Juni 2017 blockieren die Vereinigten Staaten Nominierungen für das Berufungsorgan (Appellate Body) der WTO, da sie dessen Interpretationen zum WTO-Regelwerk teilweise als Mandatsüberschreitung und der Handelsliberalisierung zuwiderlaufend einschätzen (Fabry und Tate, 2018). Hier könnten Mehrdeutigkeiten im Regelwerk, die der Appellate Body feststellt, an ein Komitee zur Verfeinerung des Regelwerks in multilateralen Verhandlungen weitergeleitet werden (Fabry und Tate, 2018). Die Europäische Kommission (2018p) schlägt vor, zur Verkürzung der Verfahrensdauer die Zahl der Richter von sieben auf neun zu erhöhen, diese in Vollzeit statt wie bislang in Teilzeit zu beschäftigen und die Unabhängigkeit des Appellate Body zu stärken, indem Richter nicht wiederernannt werden und stattdessen eine längere Amtszeit haben sollen.
(182) Drittens könnte eine Veränderung der Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse innerhalb der WTO deren Effektivität steigern. Verhandlungen innerhalb der Doha-Runde folgen dem „Single-Undertaking“-Prinzip: Jedes Element einer Verhandlung gehört zu einem unteilbaren Paket und kann nicht separat verhandelt werden. Die Abkehr von diesem Prinzip könnte es ermöglichen, zumindest in Politikfeldern, in denen Einigkeit herrscht, Fortschritte zu realisieren (Elsig, 2016). Für Entscheidungen in den WTO-Organen (Ministerialkonferenz, Gremien, Komitees) gilt das Konsensprinzip: Nur mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten können neue Regelungen beschlossen werden. Ein Abstimmungssystem basierend auf qualifizierten Mehrheiten oder einer qualifizierten Stimmengewichtung könnte die Entscheidungsfindung beschleunigen (Lamy, 2009; Abbott, 2013; Elsig, 2016).
(183) Viertens fordern die Vereinigten Staaten, die EU und Japan eine Überarbeitung des WTO-Regelwerks, insbesondere verschärfte Regelungen zur Eindämmung marktverzerrender Subventionen und staatlicher Unternehmen sowie den Schutz geistigen Eigentums (Europäische Kommission, 2018p, 2018q). Hierfür seien die Durchsetzung der Anzeigepflicht der Mitglieder über die Gewährung von Subventionen durch entsprechende Anreize und Sanktionen ebenso erforderlich wie neue Regelungen im Bereich des Marktzugangs für ausländische Investoren (etwa Joint-Venture-Verpflichtungen) und eine eindeutige Definition, unter welchen Bedingungen ein Unternehmen als staatlich zu klassifizieren ist. Zusätzlich fordert die Europäische Kommission (2018p) die Etablierung von Regelungen für den digitalen Handel.
(184) Innerhalb der WTO geschlossene Abkommen sehen bereits Sonderrechte für Entwicklungsländer vor, die ihnen beispielsweise längere Zeiträume für die Implementierung von Vereinbarungen einräumen oder Zollbegünstigungen durch entwickelte Staaten erlauben (WTO, 2018c, 2018d). Die EU kritisiert die strikte Unterteilung der WTO-Mitglieder in entwickelte Staaten und Entwicklungsländer, da sich unter letzteren inzwischen einige der größten Handelsnationen befinden (Europäische Kommission, 2018p). Stattdessen fordert die EU einen Ansatz, bei dem die Sonderregeln Unterschiede zwischen den Mitgliedern berücksichtigen, die auf deren Bedürfnisse und Entwicklungsziele abzielen und zeitlich befristet sind. Allgemein könnte es hilfreich sein, im Voraus Bewertungen zu den Wirkungen der Maßnahmen durchzuführen und Stakeholder rechtzeitig anzuhören. Nach Inkrafttreten sollten die Maßnahmen überwacht und ihre Effekte beurteilt werden (Basedow, 2017; Europäische Kommission, 2018p; Hoekmann et al., 2018).
(185) Fünftens könnten plurilaterale Verhandlungen und Vereinbarungen in das multilaterale Netzwerk eingebettet werden, um die globale Relevanz der WTO weiterhin sicherzustellen (Europäische Kommission, 2018p). Seit Anfang der 1990er-Jahre ist die Zahl regionaler und plurilateraler Handelsvereinbarungen stark angestiegen (WTO, 2018e). Während multilaterale Abkommen alle WTO-Mitglieder umfassen, beziehen plurilaterale Handelsvereinbarungen nur einige der Mitglieder ein. Dazu zählen die bilateralen Freihandelsabkommen CETA und JEFTA oder das plurilaterale Abkommen TPP. Obwohl derartige Übereinkünfte im Einklang mit dem Regelwerk der WTO stehen, könnten sie einerseits deren multilateralen Grundgedanken untergraben, andererseits aber einen Ausweg aus der vom Konsens- sowie „Single-Undertaking“-Prinzip geprägten Verhandlungssackgasse bieten (Basedow, 2017).
(186) In jedem Fall vergrößert sich die Komplexität des internationalen Handelsrechts ebenso wie das Risiko inkonsistenter Regelungen. Deshalb sollten Streitfälle innerhalb solcher Vereinbarungen in die Verantwortlichkeit des Dispute Settlement Body der WTO fallen, zumindest aber sollten Schiedsgerichte dessen Rechtsprechung anerkennen und berücksichtigen (Stoler, 2013; Basedow, 2017). Ebenso könnte ein Komitee, das plurilaterale Vereinbarungen überwacht, koordiniert und Kriterien für deren Zulässigkeit überarbeitet, die Multilateralität der WTO stärken (Elsig, 2016; Basedow, 2017). So könnte die Verpflichtung etabliert werden, dass regionale Abkommen den Beitritt weiterer WTO-Mitglieder ermöglichen müssen, um mittelfristig globalen Charakter zu erlangen.
Literatur
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