Was war das Highlight im Sachverständigenrat Wirtschaft?
Ein Highlight gab es ganz am Anfang im Jahr 2011 auf dem Höhepunkt der EU-Schuldenkrise. Im ersten Halbjahr hatten wir die Expertise zur Demografie verfasst, während es in der Europäischen Währungsunion zunehmend turbulent wurde. Im Herbst 2011 folgte dann der Schuldentilgungspakt des Sachverständigenrates als Vorschlag zur Bewältigung der Schuldenkrise im Euro-Raum. Das war in verschiedenen Dimensionen besonders und ich habe in kurzer Zeit wahnsinnig viel gelernt: Hinsichtlich der Schnittstelle von Makroökonomik und Finanzmärkten sowie über die politischen Mechanismen in Deutschland. Man kann sagen, dass wir Lehrgeld gezahlt und einige Fehler in der Kommunikation dieses Vorschlags gemacht haben. Trotzdem hat der Pakt in Europa für Furore gesorgt. Selbst das aktuelle Programm NextGenerationEU (NGEU) sehen Viele als pragmatische Fortentwicklung des Schuldentilgungspaktes. Mir erscheinen allerdings die Auflagen für die Mitgliedstaaten, die durch NGEU begünstigt sind, unzureichend. Der Schuldentilgungspakt wäre härter gewesen.
Sie waren im letzten Jahr Ihrer Amtszeit Vorsitzender, was war da besonders?
Das war im März 2020, als die Corona-Krise ausbrach und die Konjunkturprognose anstand. Wir haben aus den Fehlern des Sachverständigenrates im Jahr 2008 gelernt; ich wollte nicht so daneben liegen wie die Kollegen damals. Normalerweise erstellen wir eine Prognose, indem wir aus den bestehenden Daten die Projektion in die Zukunft machen. Das ist bei einem Schock, der so eindeutig in einem bestimmten Monat identifizierbar ist wie der Corona-Schock, aber nicht sinnvoll. Die zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Daten beinhalteten noch so gut wie keine Informationen über das Virus und die Folgen – man konnte damit keine Projektion machen. Stattdessen erstellten wir Szenarien- und Sensitivitätsrechnungen, wie sich die Wirtschaft entwickeln könnte. Das war eine tolle Zusammenarbeit und ein Ergebnis, mit dem wir im Vergleich zu verschiedenen Prognoseinstituten ganz gut lagen.
Was haben Sie besonders an der Zusammenarbeit geschätzt?
Man muss den Aufwand für ein Jahresgutachten von 450 Seiten kennen, das spätestens bis zum 15. November mit Leuten zu verfassen ist, mit denen man sonst eher nicht zusammenarbeiten würde. Das hat nichts damit zu tun, dass wir unterschiedliche Ansichten oder unterschiedliche politische Positionen haben, sondern vielmehr damit, dass die Ratsmitglieder verschiedene Spezialisierungen mitbringen – Isabel Schnabel in der Finanzmarktanalyse, Christoph Schmidt in Ökonometrie, Arbeitsmarkt und Energie, Peter Bofinger in der Geldpolitik, Volker Wieland in der Makroökonomie und ich in der Finanzwissenschaft. Oftmals dauerte die Arbeit bis spät abends oder tief in die Nacht. Obwohl es hin und wieder hoch her ging und Inhalte kontrovers diskutiert wurden, haben wir es nach diesen Sitzungen jedes Mal geschafft, uns bei einem guten Essen zusammenzusetzen. Dann waren die inhaltlichen Auseinandersetzungen im Grunde vergessen.
Wie hat sich der Rat über die Zeit weiterentwickelt?
Ich hatte das Glück, im Studium zur Klausurvorbereitung alle Jahresgutachten des Sachverständigenrates von 1964 bis 1992 lesen zu dürfen. Inhaltlich hat sich in den vergangenen Jahren im Vergleich zu den 1960er Jahren wahnsinnig viel geändert. Die frühen Jahresgutachten waren stärker deskriptiv. In meiner Zeit haben wir durchaus deskriptive Analysen zur Illustration durchgeführt, um Argumente zu verdeutlichen. Dahinter standen jedoch tiefergehende ökonometrische Analysen. Als ich im Jahr 2011 in den Rat kam, gab es zum Beispiel noch keine eigene internationale Prognose. Ab 2013 hat sich dies geändert; der Sachverständigenrat erstellt seither seine eigene Prognose für die internationale Konjunktur. In der Konjunkturanalyse gab es fortwährend methodische Anpassungen bis hin zu Machine Learning-Verfahren und Probit-Modellen zur Bestimmung der Rezessionswahrscheinlichkeit. Das heißt, wir sind in dieser Zeit methodisch, ökonometrisch sehr viel stärker geworden.
Haben sich die ökonomischen Ideale verändert?
Der Sachverständigenrat war bei seiner Gründung ein Kind des Keynesianismus. Orientiert am magischen Viereck sollte deutlich werden, was die Politik tun muss, um die Konjunktur zu steuern und die konjunkturellen Effekte für Deutschland moderat ausfallen zu lassen. Das hat sich zusehends geändert. Ab den 1970er Jahren ist der Sachverständigenrat mit dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods zu einem angebotspolitischen Konzept übergegangen. Obwohl der Rat im Zuge der 1990er Jahre und Anfang der 2000er Jahre Nachfrage- und Angebotspolitik nicht mehr so sehr betont hat, sondern seine Vorschläge für einzelne Politikfelder unterbreitet hat, hat er die angebotspolitische Orientierung, also die Marktorientierung, nicht mehr aufgegeben.
Haben sich die Struktur und die Arbeitsweise gewandelt?
Die alten Ratssitzungen in den 1960er Jahren waren meines Wissens viel steifer und formaler als heute. Damals haben sich Assistenten, Kollegen und Doktoranden gesiezt, selbst gut befreundete alte Professoren. Der erste Rat war dem Vernehmen nach stark geprägt von Herbert Giersch – etwa in der internen Arbeitsweise. Heute wird das Jahresgutachten noch nach dem damaligen Rhythmus erarbeitet: Punktation, erste Version, zweite Version, dritte Version, Qualitätskontrolle durch das Statistische Bundesamt und Politur. Diese Organisation hatte er entwickelt. Später kam die Phase, in der Olaf Sievert Vorsitzender war. Er hat den Kollegen fertige Texte vorgelegt und, wenn die Kritik zu scharf wurde, diese Texte bis zum nächsten Morgen überarbeitet. Wir haben anders gearbeitet – mit viel stärkerer Arbeitsteilung zwischen den Räten und in Verbindung mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Stab.
Welchen Einfluss hat der Sachverständigenrat?
Das ist schwer zu identifizieren. Wenn die Politik etwas ändern will und den Sachverständigenrat um Rat fragt, hätte sie wohl auch ohne seinen Ratschlag reformiert. Dennoch hat er in besonders kritischen Phasen zur wirtschaftspolitischen Orientierung in Deutschland beigetragen: ob zum Übergang zu flexiblen Wechselkursen in den 1970er Jahren, zum monetaristischen geldpolitischen Konzept der Deutschen Bundesbank, zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, zur Schuldenbremse oder zu den Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder, die auf ein Jahresgutachten des Sachverständigenrates mit dem Titel “20 Punkte für Beschäftigung und Wachstum” zurückgehen. Nach Auskunft des damaligen Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Wolfgang Wiegard, heißt die Agenda 2010 so, weil von den 20 Punkten des Rates zehn umgesetzt worden sind.
Welchen Stellenwert hat der Sachverständigenrat Wirtschaft in der Wissenschaft?
In der Fachwelt ist der Sachverständigenrat sehr anerkannt. Für diejenigen, die wirtschaftspolitisch interessiert sind, gilt der Sachverständigenrat immer noch als ein erstrebenswertes Ziel. Außerdem hat der Rat eine hohe internationale Reputation in wirtschaftspolitischen Diskussionen. Die jährlichen Vorstellungen des Jahresgutachtens beim Internationalen Währungsfonds und bei anderen Institutionen in Washington haben dazu geführt, dass der Sachverständigenrat dort seinen Bekanntheitsgrad erhöht hat. Schon ganz am Anfang waren die kritischen Äußerungen des Sachverständigenrates zum System von Bretton Woods international bedeutsam. Die Ausführungen zum Thema feste und flexible Wechselkurse sind als ein Auszug aus dem Jahresgutachten 1971/72 sogar in den Princeton Studies in International Finance veröffentlicht worden.
Anders als der CEA in den USA ist der Sachverständigenrat Wirtschaft unabhängig. Woher kommt das?
Aus unserer Geschichte. Eine Reihe von Freiburger Ökonomen organisierte sich nach der Reichspogromnacht im Widerstand – zunächst im Kontakt mit der bekennenden Kirche, später im konservativen Widerstand. Sie standen mit dem Leipziger Bürgermeister Carl Goerdeler, der nach dem Attentat vom 20. Juli von den Nazis hingerichtet wurde, in Kontakt und arbeiteten daran, wie eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland nach dem verlorenen Krieg aussehen könnte. Überhaupt davon auszugehen, dass der Zweite Weltkrieg verloren gehen könnte, war Hochverrat und wurde mit dem Tode bestraft. Mit den Freiburger Kreisen verbunden war die Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath, ein Ökonom aus Bonn. Zusammen mit Ludwig Erhard und anderen dort haben eine Reihe von Professoren, darunter Walter Eucken, bereut, dass sie sich in der Weimarer Republik in den wirtschaftspolitischen Diskussionen zurückgehalten hatten, statt ihre unabhängige Expertise einzubringen. Das führte dazu, dass Erhard den Wissenschaftlichen Beirat bei der Verwaltung für Wirtschaft 1948 als unabhängiges Gremium gründete. So sind die beiden Beiräte beim Wirtschafts- und Finanzministerium als unabhängige Institutionen geschaffen worden und aus dem Wirtschaftsbeirat gingen schließlich die Impulse hervor, einen ebenfalls unabhängigen Sachverständigenrat zu gründen. Vor dem Hintergrund dieser historischen Entwicklung sollten wir vor der Institution der Unabhängigkeit der wirtschaftspolitischen Beratung in Deutschland viel mehr Respekt haben.
Was ist aus Ihrer Sicht eine Besonderheit des Sachverständigenrates?
Die Unabhängigkeit dieser Institution in Deutschland ist ein Privileg. Wir haben solche Institutionen wie den Sachverständigenrat lange Zeit in vielen anderen Ländern der OECD überhaupt nicht gehabt. Mit dem Anhörungsrecht, mit dem ständigen Austausch mit der Politik und mit der Notwendigkeit, dass die Bundesregierung in ihrem Jahreswirtschaftsbericht auf das Jahresgutachten reagieren muss, hat man die Möglichkeit, wirtschaftspolitische Lösungen und Vorschläge in die Diskussion einzubringen, die sonst vielleicht keine Chance hätten. Das heißt, man erhält Gehör in einem Ausmaß, das man als einfacher Wissenschaftler nicht bekommt.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Sachverständigenrates?
Erstens wünsche ich mir, dass der Sachverständigenrat auch mit seinen zukünftigen Mitgliedern die Vorstellungen, die hinter der Unabhängigkeit der Politikberatung stehen, verstehen und hochhalten kann. Ich wünsche mir zweitens, dass der Sachverständigenrat sein Mandat verinnerlicht, ein Jahresgutachten zu verfassen. Das kann mit 200 oder 250 Seiten kürzer sein, aber es bleibt nach wie vor für die Politik und die Öffentlichkeit wichtig, die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge umfassend zu verstehen. Drittens muss man bei der zukünftigen Besetzung im Blick behalten, dass die Ratsmitglieder mit ihren Expertisen aus der eigenen Forschung die Inhalte, die der Sachverständigenrat zu bedienen hat, abdecken. Das gilt vor allen Dingen für die makroökonomischen Themen. Das bleibt wichtig.